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HERRSCHAFT/1801: Winfried Kretschmann - die richtige Mischung ... (SB)



Ökologie und Ökonomie, Freiheit und Sicherheit, Humanität und Ordnung. Da muss man diesen mittleren Kurs bewahren. Auch das ist ein Klassiker, der stammt in dem Fall von Aristoteles, dass die richtige Tugend die Mitte zwischen Übermaß und Mangel, zwischen zu viel und zu wenig ist. Deswegen bin ich ein großer Anhänger dieser richtigen Mitte in der Politik, weil wir damit einfach erfolgreich gewesen sind in unserer Zivilisation seit vielen tausend Jahren.
Winfried Kretschmann (Ministerpräsident von Baden-Württemberg) [1]

Winfried Kretschmann hat die parlamentarische Sommerpause ergiebig genutzt und ein Buch verfaßt. Unter dem Titel "Worauf wir uns verlassen wollen - Für eine neue Idee des Konservativen" [2] flankiert der Ministerpräsident von Baden-Württemberg den anhaltenden Wahlerfolg der Grünen mit einem alten ideologischen Unterbau in neuem Gewand. Was er im Kreis der Ökolibertären in den frühen 80er Jahren innerparteilich losgetreten hatte, entfaltete Langzeitwirkung, weil es schlichtweg den opportunistischen Drang zur erfolgversprechenden Bürgerlichkeit und politischen Mitte vorgezeichnet hat, wie er einer Partei ins Stammbuch geschrieben ist, deren Ultima ratio nicht die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern die reformistische Regierungsbeteiligung ist.

Die Ökolibertären konstituierten sich 1983 als innerparteiliche Opposition zu den Ökosozialisten. Ihr Führungszirkel bestand zunächst aus Wolf-Dieter Hasenclever, Winfried Kretschmann, Thomas Schmid, Ernst Hoplitschek und Gisela Erler. Hasenclever war früher Mitglied der SPD und danach der AUD, bevor er die Grünen mitgründete. Kretschmann war während seines Studiums von 1973 bis 1975 in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) gewesen, was er später als fundamentalen politischen Irrtum bezeichnete. Schmid war den Spontis zuzurechnen. Zu den Unterzeichnern der Gründungserklärung gehörten auch ehemalige Parteimitglieder, die die Grünen verlassen hatten, weil ihnen diese zu linksradikal seien.

Wenngleich die Ökolibertären erklärten, sie wollten das Links-Rechts-Schema überwinden, repräsentierten sie damals den rechten Rand der Partei und hegten eine starke Aversion gegen den ökosozialistischen Flügel innerhalb der Grünen. Sie formulierten den Anspruch, eine politische Strömung "innerhalb und außerhalb der grünen Partei" zu sein und grenzten sich auch von den Realos ab, denen sie Staatsfixiertheit und eine allzu große Nähe zur Sozialdemokratie vorwarfen. Die Ökolibertären bekannten sich zum Parteistatus und lehnten das Rotationsprinzip wie auch das imperative Mandat ab. Sie strebten den gesellschaftlichen Wandel nicht sofort, sondern schrittweise an, erkannten das Gewaltmonopol des Staates ausdrücklich an und befürworteten den Parlamentarismus. Basisdemokratie hielten sie für nicht praktikabel, wenngleich sie gewisse direktdemokratische Elemente guthießen.

Die Publikationen der ökolibertären Strömung galten damals als anspruchsvolle Hintergrundphilosophie, die ihre Wirkung nicht unmittelbar, sondern indirekt und langfristig erzielte. Das zugrunde liegende Menschenbild ließ sich als "ökologischer Humanismus", beeinflußt von der Anthroposophie, charakterisieren. In Habitus und Weltanschauung von einem wertkonservativen Engagement für die Bewahrung der Schöpfung geprägt und mit einem auf den für Südwestdeutschland typischen Mittelstand ausgerichteten liberalen Wirtschaftsmodell verknüpft, standen sie einer ökologisch fundierten Marktwirtschaft positiv gegenüber. Sie lehnten den Sozialismus strikt ab und strebten zur Überwindung von Industrialismus und Wachstumsfixierung eine ökologische Umorientierung an. Da sie sich gegen jede Form von Staatsinterventionismus wandten, standen sie der Forderung nach einer Entflechtung der Konzerne kritisch gegenüber. Stattdessen sollten Freiräume für Kleinunternehmen, Genossenschaften und alternative Betriebe gefördert werden.

Kritik an den Ökolibertären übten vor allem die Ökosozialisten, die ihnen vorwarfen, sie seien im Grunde Ökoliberale und wollten aus der Partei eine "grüne FDP" machen. Auch standen sie dem Programm der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) in der CDU so nahe, daß deren damaliger Generalsekretär Heiner Geißler sie als "ernstzunehmende Gesprächspartner" bezeichnete, mit denen es in einzelnen Punkten Überschneidungen gebe. Winfried Kretschmann wiederum hob die Fortschrittsskepsis der Umweltbewegung als eine konservative Grundhaltung hervor, weshalb eine Koalition mit der CDU nicht auszuschließen sei.

Den stärksten Einfluß hatten die Ökolibertären in Baden-Württemberg, wo Hasenclever bis 1982 erster Vorsitzender des Landesverbandes und bis 1983 Vorsitzender der Landtagsfraktion war. Insgesamt blieben sie jedoch ohne größere unmittelbare Wirkung und stellten Anfang der 90er Jahre ihre Treffen ein. Sie wurden später den Realos zugerechnet, einige verließen die Grünen und wechselten wie Hasenclever und Hoplitschek zur FDP. Auch wenn sich die Ökolibertären als innerparteiliche Strömung nicht durchsetzen konnten, wurden viele ihrer Forderungen langfristig bei den Grünen integriert. So gab es ab Mitte der 90er Jahre schwarz-grüne Koalitionen auf kommunaler Ebene, die ökologische Marktwirtschaft setzte sich als Leitbild durch, und das Bekenntnis, eine politische Partei zu sein, wurde selbstverständlich.

Einen langen Atem bewies Winfried Kretschmann, der als Nachfolger Hasenclevers den baden-württembergischen Landesverband stark prägte und nach der Landtagswahl 2011 der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland wurde. Er trat 2016 erneut als Spitzenkandidat der Grünen an, die einen Stimmenanteil von 30,3 Prozent erreichten und die CDU auf den zweiten Platz (27 Prozent) verwiesen. Damit waren die Grünen erstmals stärkste Partei in einer Landtagswahl. Da die SPD mit knapp 13 Prozent erhebliche Verluste zu verzeichnen hatte, war die Fortführung der grün-roten Koalition nicht mehr möglich. Der Ministerpräsident zeigte sich für alle Optionen offen, woraus eine Regierungsbildung mit der CDU unter grüner Führung resultierte.

Wenn Kretschmann in seinem neuen Buch abermals die "richtige Mitte" in der Politik beschwört und einen auf die Zukunft ausgerichteten Konservativismus anmahnt, schenkt er den alten ökolibertären Wein in den neuen Schläuchen seines persönlichen politischen Erfolgs wie auch des schleichenden Durchmarsches dieser Ideologie bis hin in die aktuelle Führung auf Bundesebene aus. Er versteht sich nicht nur als durchsetzungsfähiger Pragmatiker, sondern zugleich als theoretischer Vordenker der Partei, ohne dies an die große Glocke zu hängen, da er im Grunde nur bekräftigen muß, was sich längst durchgesetzt hat. Ihm gehe es gar nicht in erster Linie um die Grünen, sondern darum, in Zeiten eines dramatischen Wandels und der politischen Umbrüche Halt zu geben und zur Orientierung beizutragen. Die Welt sei nun einmal kompliziert, doch Politiker hätten die Aufgabe, auch komplizierte Dinge so darzustellen, daß sie verstanden werden.

Wie schon Aristoteles erkannt habe, sie die rechte Tugend die Mitte zwischen Übermaß und Mangel, zwischen zu viel und zu wenig. Deswegen sei er ein großer Anhänger dieser richtigen Mitte in der Politik, "weil wir damit einfach erfolgreich gewesen sind in unserer Zivilisation seit vielen tausend Jahren", so Kretschmann. Auf seinem breiten philosophischen Sockel stehen nicht nur Aristoteles und Immanuel Kant, sondern auch Hannah Arendt und Jeanne Hersch, Edmund Burke, John Rawls, Hans Jonas und Karl Popper, die ihm bei der Navigation durch die Klippen und Untiefen von Heimat und Identität, Naturschutz und Familie, neue soziale Marktwirtschaft und Zusammenleben verschiedener Kulturen assistieren sollen. Während Flucht in die Vergangenheit reaktionär sei, stelle sich die neue Idee des Konservativen der Gegenwart und habe die Zukunft im Blick. Sie verbinde Bewahren und Gestalten miteinander und gehe die großen Aufgaben der Zeit mit Zuversicht und einem klaren Wertekompaß an.

Was soll das bedeuten? Kretschmann führt es an einem Beispiel aus, das tief blicken läßt. Daß der Fremde unser Nächster ist, stehe in den Evangelien und sei 2.000 Jahre alt. Es sei eine der großen Wegmarken der Menschheitsgeschichte, daß nicht nur der Verwandte oder Nachbar, nicht nur der Mensch des eigenen Volkes oder derselben Religion, sondern jeder auf der ganzen Welt, der in Not ist und der Hilfe bedarf, unser Nächster ist. Etwas ganz anderes sei jedoch der praktische Umgang damit. Natürlich könne nicht einfach jeder zu uns kommen, sondern nur die politisch Verfolgten. Für solche in wirtschaftlicher Not müsse man ein Einwanderungsgesetz schaffen, so daß auch sie eine Perspektive haben. Bekanntlich wurde Kretschmann sogar in der eigenen Partei kritisiert, als Baden-Württemberg 2014 als einziges Bundesland mit grüner Regierungsbeteiligung einer Änderung des Asylgesetzes zustimmte. Danach werden Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsländer eingestuft, wodurch Asylbewerber schneller abgeschoben werden können.

Wie groß ist die Gefahr, daß die Grünen die Mitte überspringen und gleich auf der anderen Seite im Schoß der Union landen? Ist Grün gar das neue Schwarz? Diesen naheliegenden Verdacht will Kretschmer mit der Formel entkräften, daß die Grünen eine eigenständige Partei seien, die sich die großen Menschheitsfragen zum Kernanliegen gemacht habe. Sie definierten sich nicht über andere Parteien und könnten in Koalitionen mit verschiedenen Partnern unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Den eigenen Markenkern hervorzuheben, aber koalitionsfähig zu bleiben, sei die Aufgabe der Stunde, so der Ministerpräsident. Feiert hier der ökolibertäre Kunstgriff Urstände, das Schema von links und rechts habe ausgedient, so führt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner das damalige Konstrukt einer politischen Strömung innerhalb und außerhalb Partei in zeitgemäßer Version vor. Die Grünen seien keine neue Volkspartei, sondern ein Bündnis, das mit Unternehmen, Kirchen, Gewerkschaften, Alleinerziehenden beim Klimaschutz vorangehe und für Gerechtigkeit eintrete. Das sei etwas Neues, und dafür brauche man keinen Rückgriff auf ein veraltetes Label aus dem 20. Jahrhundert. [3]

Wenngleich Kretschmann seiner maoistischen Studentenphase abgeschworen hat, kann er sich doch zumindest den persönlichen langen Marsch ans Revers heften, der mit dem ökolibertären rechten Rand der Grünen im Gepäck bis zum neokonservativen Markenkern seiner Partei führte, ohne unterwegs an einem Verfallsdatum seines Proviants zu scheitern. Geschichtsvergessenheit zahlt sich eben doch aus, sofern es gelingt, die eigenen selektiven Deutungsmuster als kollektive Erinnerung zu konservieren.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/winfried-kretschmann-gruene-plaedoyer-fuer-die-richtige.694.de.html

[2] Winfried Kretschmann: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, S. Fischer Verlage 2018, 160 Seiten, 13 Euro, ISBN: 978-3-10-397438-6

[3] www.deutschlandfunk.de/gruene-nach-der-bayernwahl-strategische-neuausrichtung.1773.de.html

18. Oktober 2018


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