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HERRSCHAFT/1836: Stonewall Riots - Widerstand noch geboten ... (SB)



Queer! Ah, müssen wir dieses Wort wirklich benutzen? Es bedeutet Ärger. (...) Es bietet die Möglichkeit, uns klarzumachen, daß wir keine witzigen und charmanten Menschen sein müssen, die ihr Leben diskret und am Rande der normalen Welt führen. (...) Queer bedeutet nicht, wie schwul, männlich. Und wenn wir mit anderen Schwulen und Lesben sprechen, ist es eine Möglichkeit vorzuschlagen, die Reihen zu schließen und (vorübergehend) unsere individuellen Streitigkeiten zu vergessen, weil wir einem sehr viel gefährlicheren Feind gegenüberstehen. Ja, queer kann ein grobes Wort sein, aber es ist auch eine schlaue und ironische Waffe, die wir den Homophoben entwenden und gegen sie einsetzen können.
Aus einem auf dem Pride March in New York im Juni 1990 verteilten Flugblatt [1]

Von "das ist Privatsache, das geht niemanden etwas an" über "Diskussionen über die Geschlechterfrage lenken von den eigentlich wichtigen politischen Problemen ab" bis zu "warum müssen die sich auch immer so aufspielen" reicht die Palette der Kommentare, mit der sich auch die nicht explizit homophobe Bevölkerung an der demonstrativen Sichtbarkeit schwuler, lesbischer, inter-, trans-, nonbinärer und queerer Menschen abarbeitet. Dragqueens und CrossdresserInnen haben ihren festen Platz in der Unterhaltungsindustrie, wo das kalkulierte Spiel des Rollentauschs gerade deshalb amüsiert, weil die Heteronormalität damit festgeklopft wird. Diesseits aggressiver Homo-, Inter- und Transphobie wird gerne zum Toleranzedikt gegriffen und damit ein herrschaftsförmiges Regulativ in Kauf genommen, wie einst von absolutistischen HerscherInnen als Gnadenakt der Duldung verfügt. Mit Toleranz moderieren gesellschaftliche Mehrheiten ihr Verhältnis zu Minderheiten, die nicht offen zu unterdrücken oder zu verbieten ein Preisschild hat. Wer sich herausnimmt, anders zu sein, soll sich gefälligst den Werten und Normen der Mehrheit unterwerfen, schließlich kann die gewährte Toleranz auch wieder entzogen werden.

Homophobie ist nicht das Problem der Schwulen und Lesben, sondern das einer homophoben Gesellschaft, deren heterosexuelle Libertinage so sehr von Gewaltverhältnissen durchzogen ist, daß das angespannte Verhältnis zu sich ihren Ansprüchen verweigernden Minderheiten nicht wirklich erstaunen kann. Patriarchales Dominanzstreben und sexistische Körperinszenierungen zeigen, daß sich sexuelle Gewalt nicht auf Einzelfälle reduzieren läßt, sondern Ausdruck eines vornehmlich maskulinen, durch kapitalistische Vergesellschaftungspraktiken bestimmten Anspruches auf Herrschaft und Eigentum ist. Eßstörungen, Bodyshaming, die anwachsende Notwendigkeit, die Physis mit plastischer Chirurgie korrigieren zu lassen - die Honorierung erfüllter und Abstrafung verweigerter Körpernormen ist in neoliberalen Ein- und Ausschlußprozessen allgegenwärtig.

Wie die Aneignung des ursprünglich abwertenden und zudem schwulenfeindlichen englischen Wortes queer als Bezeichnung für nicht heterosexuell lebende Menschen belegt, läßt sich das Problem homophober Ausgrenzung und Anfeindung in positiver Verkehrung aufgreifen, um die Ressentiments sich als "normal" definierender Menschen gegen sich selbst zu kehren. Der von diesen ausgeübte Druck ist nicht nur gegen offenes Anderssein, gleichgeschlechtliches Begehren oder die Verweigerung aller geschlechtlichen Zuordnung gerichtet, sondern betrifft sogar Menschen, die kein besonderes Interesse an sexuellen Kontakten zeigen, wie die Einbeziehung des Asexuellen in die Kategorie queer belegt. Angemahnt wird die Pflicht zur biologischen Reproduktion der Gesellschaft oder zumindest die Teilhabe an ihren sozialen Ritualen, deren traditioneller Mittelpunkt die "Paarung" ist, das Eingehen einer monogamen Fortpflanzungsgemeinschaft und die Bildung einer kleinfamiliären Keimzelle herrschender Ordnung. Queeren Menschen wird denn auch besonders übelgenommen, wenn sie sich promisk verhalten oder in schwulen Saunen ihrer Lust nachgehen, anstatt diese in den Dienst von Militär und Fabrik zu stellen.

So läßt die Verwirklichung einer geschlechtlichen Autonomie, die, weil in jeder Hinsicht vollständig akzeptiert, unumkehrbar und keiner besonderen Erwähnung wert ist, nicht nur auf sich warten. Sie wird angesichts von rund 70 Staaten in der Welt, in der Homosexualität strafbar ist und zum Teil das Leben kosten kann, aktiv bekämpft, das gilt hierzulande insbesondere für die neurechte Polemik gegen alle, die mit Genderfragen befaßt sind und feministisch oder queer daherkommen. 50 Jahre nach den Stonewall Riots in New York, die als erster größerer Akt des offenen und kollektiven Widerstandes schwul, lesbisch und trans lebender Menschen gegen staatliche Unterdrückung gelten, und 25 Jahre nach der vollständigen Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität in der Bundesrepublik gibt es mehr als genug Gründe dafür, sich dem Rollback einer christlich bestimmten Geschlechterordnung und der sie begründenden Herrschaft des Patriarchats auf allen gesellschaftlichen Ebenen entgegenzustellen.


"Kämpfe verbinden! Normen überwinden!"

Wie auf der Berliner Pride Parade, auf der unter dem Motto "behindert und verrückt feiern" am 22. Juni für die Freiheit und Selbstbestimmung behinderter Menschen demonstriert wurde, auf einem Transparent gefordert finden die Konvergenz emanzipatorischer Kämpfe und die Aufkündigung normativer Gewalt Hand in Hand statt. Das gilt auch für Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlich arrivierten Homosexuellen und einer queeren Gegenkultur, die sich mit der herrschenden Ordnung aus vielen politischen Gründen anlegt. Keineswegs müssen Schwule und Lesben etwas gegen gesellschaftliche Gewaltverhältnisse einzuwenden haben, solange sie nicht selbst betroffen sind. UnternehmerInnen, die ArbeiterInnen ausbeuten, Militärs, die imperialistische Kriege führen, PolizistInnen, die rassistisches Profiling betreiben, müssen nicht notwendigerweise zur heterosexuellen Mehrheit gehören. Bunte Diversität kann zur Legitimation herrschaftsförmiger Interessen oder Markenzeichen für erlesenen Luxuskonsum eingesetzt werden, ohne die dadurch bedingten Ausbeutungsverhältnisse in Rechnung zu stellen.

So wurde bei der kulturindustriellen Verarbeitung der epochalen Stonewall Riots versucht, die Geschichte dieses Kampfes durch den Ausschluß nichtweißer Schwuler und Trans-Menschen weißzuwaschen. Der 2015 in die Kinos gekommene, von Roland Emmerich gedrehte Film "Stonewall" wurde von dem 1969 am Aufstand beteiligten Aktivisten Mark Segal kritisiert, weil er fast nur an seinem "weißen, männlichen, stereotypisch attraktiven Protagonisten interessiert" [2] sei und die an den Riots beteiligten Frauen übergehe, die den Aufbau der Gay Liberation Front unterstützten. Damit waren sie an der Organisierung einer anfangs lediglich 100 offen als LGBT-Community lebenden Gruppe beteiligt, die innerhalb eines Jahres unter dem Druck staatlicher Repression auf bis zu 15.000 LGBT-AktivistInnen anwuchs. Man könnte auch sagen, daß die politische Radikalisierung, die in der weißen Mehrheitsgesellschaft der USA stets nichtweiße Minderheiten einbezieht, gezielt zugunsten des Kampfes gegen lediglich ein Unterdrückungsverhältnis umgangen wurde.

Andere Teilnehmer an den Stonewall Riots wie der damalige Aktivist David Thorstad werfen der LGBT-Bewegung vor, sich unter dem Etikett queer von Unternehmensinteressen vereinnahmen zu lassen und die Bedeutung schwulen Protestes zu hintertreiben [3]. Das von ihm in seiner politischen Haltung zwar gutgeheißene, aufgrund des Oberbegriffs queer jedoch abgelehnte Bündnis namens Reclaim Pride Coalition (RPC) hat als Alternative zum traditionellen Christopher Street March, der anläßlich des 50. Jahrestages der Stonewall Riots am 30. Juni als World Pride gefeiert wird, zeitgleich einen Queer Liberation March initiiert.

Diese dem Ideal umfassender Befreiung verbundenen AktivistInnen wollen an die lange Geschichte ihres Widerstandes und die vielen dabei mit Staatsgewalt und Homophobie konfrontierten AktivistInnen in Abgrenzung zur konformen Kultur weltweit abgehaltener Pride Paraden erinnern, der sie in ihrem Aufruf [4] vorhalten, an der profitorientierten Ausbeutung queerer Communities teilzuhaben und die Interessen von Staaten und Konzernen durch Pinkwashing zu legitimieren. RPC wendet sich explizit neben den auf queere Menschen insbesondere abzielenden Unterdrückungsformen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gegen Klassenunterdrückung und Altersdiskriminierung, gegen von den USA ausgehende Kriege und den gefängnisindustriellen Komplex des Landes. Die Forderung nach sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit weltweit erhebt das Bündnis unter ausdrücklicher Nutzung des Begriffes queer als einer Bezeichnung, bei der es sich nicht bloß "um eine Identität bestimmende Kategorie handelt, sondern eine politische Position der Rebellion und Befreiung" [5].


Fußnoten:

[1] http://www.qrd.org/qrd/misc/text/queers.read.this

[2] https://www.pbs.org/newshour/arts/stonewall-movie

[3] https://www.counterpunch.org/2019/06/21/why-im-skipping-stonewall-50/

[4] https://reclaimpridenyc.org/why-we-march

[5] https://reclaimpridenyc.org/history-statement
We have chosen to use the phrase Queer as an umbrella category to represent the wide span of sexual and gender minorities and outlaws who have historically and currently been oppressed. "Queer" signals for us a political stance of rebellion and a demand for liberation more-so than simply an identity category. We are trans, bisexual, lesbian, gay, queer, intersex, asexual, two-spirit, non-binary, and gender non-conforming individuals and communities.

28. Juni 2019


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