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HERRSCHAFT/1847: CO2-Steuer - Hitzerekorde und Besitzstandsicherung ... (SB)



Nicht nur in der Arktis, auch in Mitteleuropa läuft die Entwicklung der Temperaturen allen Prognosen davon. Der Juli war der weltweit heißeste Monat seit Beginn der wissenschaftlichen Klimabeobachtung und hat in Europa neue Rekorde aufgestellt [1]. Alle Indikatoren weisen auf sich selbst verstärkende Entwicklungen der Erwärmung durch die verminderte Aufnahmefähigkeit der Meere, Pflanzen und Böden für CO2 bei gleichzeitig anwachsender Emission von Treibhausgasen und drastischem Verlust an noch nicht versiegelten Flächen, noch nicht denaturierten Wäldern und wildlebender Tier- und Pflanzenarten hin.

Bemessen an ihrer Biomasse stellen rund 7,7 Milliarden Menschen nur 0,01 Prozent aller Bioorganismen dar. Die im Anthropozän zu ziehende Zwischenbilanz der Folgen zivilisatorischer Entwicklung besagt, daß 83 Prozent aller wildlebenden Säugetiere und die Hälfte aller Pflanzen verschwunden sind, die es gab, bevor der Mensch zum größten Räuber unter den Tieren wurde. Nur noch 30 Prozent aller Vögel leben in freier Natur, der Rest wird als "Geflügel" in kurzen Fristen aufgezogen, bei der Eierproduktion verbraucht und so oder so geschlachtet. 60 Prozent aller Säugetiere werden heute als sogenannte Nutztiere zur Erwirtschaftung von Fleisch und Milch gehalten. 36 Prozent als Menschen firmierender Säugetiere haben es geschafft, den Bestand frei lebender Wildtiere auf 4 Prozent weltweit zu reduzieren [2].

Diese Entwicklung läßt sich nicht mehr zurückdrehen, wie überhaupt offen ist, ob sich die bereits angestoßenen Prozesse der Erderwärmung selbst bei radikaler Reduzierung aller Verbrauchspraktiken noch so einholen lassen, daß das Ausmaß der Klimakatastrophe die Existenz menschlicher Gesellschaften nicht grundlegend bedrohte. Das ist nicht nur eine Frage der Entwicklung natürlicher Bedingungen, sondern vor allem der Fähigkeit, das Zusammenleben auf eine Weise zu organisieren, die nicht in Diktatur, Bürgerkrieg und Massenvernichtung mündet. Mittelfristig muß von einer drastischen Verringerung verfügbarer Nahrungsmittel, sauberen Trinkwassers und mineralischer Ressourcen wie zum Beispiel des für die Herstellung von Düngemitteln wichtigen Phosphors ausgegangen werden. Schon heute sind die Staaten kaum in der Lage, die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse auf zivile Weise zu befrieden. Die Angst, zu kurz zu kommen, bringt sozialrassistische Feindbilder aller Art hervor und hat eine weltweite Welle der Renationalisierung ausgelöst. Immer mehr Menschen fallen auf die bequeme Lösung eines sozialdarwinistisch bestimmten Nationalchauvinismus herein, was die herrschende Klasse nicht ernsthaft unterbindet, sondern sich als Mittel der sozialen Atomisierung zunutze macht.

Die Gefahr des Ausbrechens großer Staatenkriege wächst dementsprechend an und vergrößert die Gefahr des Eintretens unumkehrbarer Entwicklungen, sind doch die hochgradig auf fossile Energie angewiesenen Streitkräfte schon zu "Friedenszeiten" große Emittenten von Treibhausgasen. Daß ihr Verbrauch an Naturressourcen nicht in klimapolitische Verhandlungen einbezogen wird, verweist auf die große Bereitschaft der Staaten, den Kampf um die letzten Ressourcen im Zweifelsfall mit kriegerischen Mitteln auszutragen. Das Problem, vor dem insbesondere die pro Kopf der Bevölkerung am meisten Treibhausgase freisetzenden Industriestaaten stehen, ist mithin nicht nur das einer breit orchestrierten Reduzierung des Ressourcenverbrauchs. Sie stehen vor allem vor der Herausforderung, diese Entwicklung mit Marktsubjekten zu vollziehen, die auf soziale Konkurrenz und die Tauschwertlogik eines Marktes zugerichtet sind, auf dem alles seinen Preis haben muß, also auch die Rettung der Welt.

Angesichts der zu bewältigenden Aufgabe, dieser Entwicklung produktiv entgegenzutreten, wirken deutsche PolitikerInnen einfach nur überfordert. 2019, also fast 40 Jahre nach den ersten weltweit wahrgenommenen Prognosen des anstehenden Klimawandels und seiner katastrophalen Folgen, können sie auf Grund der Masse verfügbarer Prognosen und der insbesondere unter Jugendlichen um sich greifenden Zukunftsangst nicht anders, als mit konkreten Maßnahmen aufzuwarten. Die Symbolpolitik, mit der sie sich klimapolitisch seit Jahrzehnten über Wasser halten, verfängt nicht mehr, doch das in sich widersprüchliche Sammelsurium an Vorschlägen, mit denen ein Neubeginn staatlicher Klimaschutzpolitik in die Wege geleitet werden soll, wirkt wie der Versuch, eine starke Blutung mit Heftpflastern zu stillen.

Mit dem globalen Charakter notwendiger Interventionen völlig unverträglich ist die nationale Ausrichtung von Maßnahmen, die nicht nur klimapolitisch wirksam sein, sondern immer auch nationale Vorteile auf dem Feld politischer und ökonomischer Staatenkonkurrenz mit sich bringen sollen. Unverhandelbare Anforderung an alle diskutierten Lösungen ist ihre Tauglichkeit für das Erwirtschaften weiteren Wachstums, so daß von einer weitgehenden Gleichsetzung von Industrie- und Klimapolitik gesprochen werden kann. Obgleich in der Bundesrepublik eines der weltweit höchsten Pro-Kopf-Niveaus an Naturverbrauch erreicht wird, soll bei allen Entscheidungen stets im Blick bleiben, ob nicht andere Staaten daraus Gewinn schlagen, wenn die Exportnation Deutschland sich staatlich regulierte Beschränkungen auferlegt. So changiert die politische Debatte zwischen dem Versuch, notwendige Veränderungen mit Blick auf die Konkurrenz anderswo klein zu halten, oder aber sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, wenn der reklamierte Vorbildcharakter Aussicht darauf eröffnet, den globaladministrativen Einfluß Berlins zu mehren und deutschen Unternehmen gute Geschäfte zu bescheren [3].

Keinesfalls verlassen wird das Feld einer kapitalistischen Marktwirtschaft, deren Warenproduktion zu einem nicht an den existentiellen Bedürfnissen der Menschen, sondern ihrer Nützlichkeit als KonsumentInnen orientierten Naturverbrauch geführt hat. Der Grundsatz, alle Treibhausgasemissionen zu bepreisen und auf diese Weise zu regulieren, ändert an dem Problem einer ausschließlich an Kapitalverwertung orientierten Produktivität nur wenig. Die Frage, ob Emissionshandel oder CO2-Steuer den Klimaschutz besser voranbringen, reduziert diesen auf eine Funktion des warenproduzierenden Systems, anstatt den zerstörerischen Charakter der Kapitalakkumulation zu erkennen. Wo es einer kollektiven Bemühung ohne Ansehens nationaler, ethnischer, geschlechtlicher und ökonomischer Bedingungen bedürfte, um nennenswerten Einfluß auf den industriellen wie persönlichen Ressourcenverbrauch zu nehmen, soll die Individuation der Marktsubjekte unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben.

Dabei geht es nicht nur darum, eine sozial ungerechte Maßnahme wie die CO2-Steuer einzuführen, die die Lebenspraktiken und Verbrauchsprivilegien wohlhabender Menschen schützt. Weit entfernt davon, die Verursacher und Profiteure der fossilistischen Reichtumsproduktion zur Kasse zu bitten, sollen mit dem Insistieren auf Marktlösungen etablierte Herrschaftsstrukturen fortgeschrieben werden. Wo die unabgegoltene historische Aufgabe der Bewältigung sozialer Ungleichheit durch die hinzukommende Anforderung der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen wieder zu einer greifbaren Option werden könnte, soll um so entschiedener verhindert werden, dies im Rahmen einer egalitären, von ökosozialistischen Prinzipien bestimmten Weltgesellschaft zu verwirklichen. Während die Erkenntnis um sich greift, daß die technische Bewältigung der Klimakatastrophe ohne die soziale Aufhebung aller Überlebenskonkurrenz bloßes Stückwerk bleiben muß und sogar droht, in Form eines die Welt zum Labor wissenschaftlicher Großexperimente machenden Geoengineerings unabsehbare, möglicherweise höchst destruktive Ergebnisse zu zeitigen, wird der Dystopie eines grünen Kapitalismus zugearbeitet, der die Klassenwidersprüche marktförmiger Vergesellschaftung mit einer ökologisch begründeten und autoritär durchgesetzten Mangelverwaltung weiter verschärfte.

Bleibt die Frage, ob das Treffen angemessener klimapolitischer Entscheidungen unter den Bedingungen der repräsentativen, die Allianz von Staat und Kapital schützenden und in Krisenzeiten von faschistischen Ermächtigungsfantasien belagerten Demokratie überhaupt möglich ist. Wo die Sicherung herrschender Besitzstände alle Überlegungen zum Treffen notwendiger Maßnahmen dominiert und die Einteilung der Welt in nationale Staatssubjekte Vermeidungsstrategien und Ressourcenkriege initiiert, besteht kaum Aussicht darauf, die Frage notwendigen Verbrauches kosmopolitisch auf eine Mensch und Natur schonende Weise zu beantworten. Um die gewaltige Diskrepanz zwischen dem erreichten Stand an Naturzerstörung und regressiver Besitzstandwahrung zu brücken, braucht es mehr als eines jugendlichen Protestes, dem die sozialrevolutionäre Basis weitgehend verlorengegangen ist. Ohne eine antikapitalistische, an konkreten Ideen zur Schaffung einer ökosozialistischen Gesellschaft arbeitende Organisierung des Widerstands nicht nur weißer Mittelschichten, sondern der abgehängten, flüchtenden, von rassistischer und patriarchaler Gewalt betroffenen Menschen bleibt das Feld jenen gesellschaftlichen Gewinnern überlassen, die hoffen, zu Lebzeiten noch nicht vom ganzen Ausmaß der Katastrophe betroffen zu sein und bis dahin wie bisher zu Lasten anderer zu überleben.


Fußnoten:

[1] https://www.ncdc.noaa.gov/sotc/global/201907

[2] https://www.counterpunch.org/2019/07/17/ye-cannot-swerve-me-moby-dick-and-climate-change/

[3] https://www.magazin-auswege.de/data/2019/08/Cechura_CO2-Die_Wunderwaffe_der_Klimapolitik.pdf

3. September 2019


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