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HERRSCHAFT/1850: Stuttgart - gespaltenes Grün ... (SB)



Als führendes Industrieland haben wir eine besondere Verantwortung. Wir müssen der Welt zeigen: Wirtschaftlicher Erfolg und Klimaschutz gehören in Zukunft zusammen. Man kann auch gut leben, ohne dabei unsere Erde zu zerstören. Und nur mit energiesparenden Produkten und ressourceneffizienten Maschinen kann man auf den Märkten von morgen erfolgreich sein. Wenn es uns gelingt, ein Modell klimaverträglichen Wohlstands zu liefern, dann werden sich andere daran orientieren.
Winfried Kretschmann (Grüner Ministerpräsident Baden-Württembergs) [1]

Winfried Kretschmann erklärt, wie grüner Kapitalismus funktionieren soll, und will diesen Entwurf auch in einer dritten Amtszeit als Ministerpräsident Baden-Württembergs nach Kräften vorantreiben. Wie er in einem "Brief an die Bürgerinnen und Bürger" auf seiner Homepage zur Ankündigung einer erneuten Kandidatur im Frühjahr 2021 ausführt, gelte es weiter nachzulegen und die Schlüsseltechnologien von morgen kraftvoll voranzutreiben, denn das sei konkrete Zukunftspolitik. Innovation sei der Schlüssel, den Wohlstand zu sichern und die großen Herausforderungen wie die Klimakrise zu meistern: "So sorgen wir dafür, dass unser Wirtschaftsstandort auch künftig in der Champions League spielt." Das hören Konservative und Wirtschaftskreise gern, als deren Sachwalter er sich erfolgreich profiliert hat. Unter ihnen genießt er hohes Ansehen, schätzt man doch seinen Regierungsstil als pragmatisch und "ideologiefrei". [2]

Wenig erbaut sind hingegen Umweltverbände wie die Deutsche Umwelthilfe, die mit Klagen auch das Land Baden-Württemberg zur Einhaltung von Grenzwerten zur Luftreinhaltung allen voran in Stuttgart zwingt. Kretschmann muß in diesem Fall geradezu zur Umsetzung von Gerichtsurteilen getrieben werden, was für einen Grünen ein veritables Armutszeugnis ist. Lange hat es gedauert, bis sich die grün-schwarze Koalition beim Thema Klimaschutz oder Wohnungsbau auf eine gemeinsame Linie geeinigt hat, hinzu kam der Dauerstreit um Fahrverbote. Daß sich der Schutzpatron der Autoindustrie schwerlich als entschiedener Vorkämpfer gegen die Klimakrise hervortun würde, kann indessen nicht überraschen.

Bernhard Strasdeit, Landesgeschäftsführer der Linkspartei in Baden-Württemberg, sieht denn auch in Kretschmanns Ankündigung "keine gute Botschaft für unser Land". Die Erklärungen des Grünen, den Klimawandel bekämpfen zu wollen, seien reine Rhetorik. Der Ministerpräsident sei "konzernorientiert", setze auf das Elektroauto und wolle die Automobilindustrie des Bundeslandes zum Weltmarktführer auf diesem Gebiet machen. Zugleich stelle sein Kabinett viel zu wenig Geld für die weitere Elektrifizierung von Bahnstrecken zur Verfügung. Auch in der Sozialpolitik sei von dem Grünen wenig zu erwarten. Obgleich beispielsweise die Kita-Gebühren sehr hoch seien, stelle sich Kretschmann gegen ein breites Bündnis, das gebührenfreie Kitas fordert. Die CDU sei hier in vielen Punkten sozialer als die Grünen, erinnert Strasdeit daran, wer den Preis für das vielgepriesene Musterland zu entrichten hat. [3]

Wenn Kretschmann das Modell eines klimaverträglichen Wohlstands, an dem sich andere orientieren, als Königsweg zur gleichzeitigen Sicherung des Lebensstandards und Abwendung der Klimakatastrophe verkauft, legt er damit entschiedener denn je einen Kurs an, dem die Grünen auch als Gesamtpartei mehrheitlich den Zuschlag geben. Er gaukelt die Idylle einer Heimat "mit wunderschöner Natur und einzigartigen Menschen" vor, in der "alle gerne leben". Als existierten globale Ausplünderung und Ausbeutung heimischer Arbeitskraft in seinem Universum nicht, behauptet der grüne Ministerpräsident, der allseits geschätzte Wohlstand gründe "auf dem Fleiß und dem Erfindungsreichtum der Menschen und der Unternehmen". Heute hätten im Südwesten so viele Menschen eine Arbeit wie nie zuvor und sie lebten in einer der sichersten Regionen der Welt. "Doch es ist kein Naturgesetz, dass es uns immer so gut gehen wird. Wir erleben einen stürmischen Wandel", warnt er vor tiefen Umbrüchen.

Was ist zu tun? Abhilfe sollen Wissenschaft und Forschung wie auch insbesondere eine gezielte Wirtschaftsförderung schaffen. Patentanmeldungen und Exzellenzuniversitäten, "Cyber Valley" als größter Forschungsverbund für Künstliche Intelligenz - das alles schlage starke Brücken in die Zukunft. Dabei unterstütze man besonders den Mittelstand, und wenn das Auto gerade neu erfunden werde - mit neuen, abgasfreien Antrieben, mit dem autonomen und vernetzten Fahren - müsse man ganz vorne dabei sein: "Ich will, dass das emissionsfreie Auto der Zukunft bei uns in Baden-Württemberg vom Band rollt. Deshalb habe ich einen Strategiedialog mit der Automobilindustrie gestartet, in dem Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik an einem Strang ziehen."

Zugleich behauptet Kretschmann, daß ihm die Klimakrise besondere Sorge bereite. Die Zeit dränge, da sich im kommenden Jahrzehnt entscheide, ob die Menschheit die globale Erhitzung noch eindämmen kann: "Wir müssen deshalb entschlossen den Weg zu einem klimaneutralen Baden-Württemberg gehen." Für ihn heißt das keineswegs, eine Verringerung der Autoproduktion und eine Umgestaltung des Verkehrswesens als Sofortmaßnahmen in Angriff zu nehmen, wie auch die notwendige Konversion der absehbar verlorengehenden Arbeitsplätze in der Autoindustrie voranzutreiben. Ganz im Gegenteil schwört er alle Beteiligten auf das angeblich emissionsfreie "Auto der Zukunft" ein, das an diesem Standort zuallererst produziert werden soll. Kretschmann treibt die zerstörerische Sackgasse des Automobilismus auf die Spitze und konstruiert daraus ein Heilsversprechen, an dessen Erfüllung alle Hand in Hand mitwirken könnten.

Er räumt durchaus ein, daß Anreize und Subventionen allein nicht mehr ausreichen werden und auch die unsichtbare Hand des Marktes es nicht richten kann. Um die Klimakatastrophe zu verhindern, bedürfe es einer entschlossenen Ordnungspolitik mit klaren Regeln und das werde nicht ohne Zumutungen gehen. Dabei läßt Kretschmann offen, welche Zumutungen ihm vorschweben und vor allem, wem sie zugedacht sind. Daß die ansässigen Autokonzerne die Leidtragenden sein sollen, ist eher nicht zu erwarten. Das Flaggschiff der Grünen nicht nur auf Länderebene, sondern auch an der ideologischen Front fixiert die Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise auf technologische Lösungen, womit er dem dringend gebotenen sozial-ökologischen Ansatz eine klare Absage erteilt. Er blendet nicht nur die Folgeprobleme alternativer Antriebe und die massiven gesamtgesellschaftlichen Schäden durch den Automobilismus aus, sondern verhindert mit dieser Weichenstellung den Einbezug gesellschaftlicher Widerspruchslagen in die Umwelt- und Klimadiskussion.

Kretschmanns Standortpolitik "uns geht es gut und so soll es bleiben", ergänzt um die implizite Parole "von Stuttgart lernen heißt siegen lernen", bliebe in seiner borniert-besitzständischen Aggression ein Fanal regionalen Geltungsstrebens, ginge es nicht zugleich um die Ausrichtung der aufstrebenden grünen Gesamtpartei wie auch die deutsche Strategiedebatte angesichts der Klimakrise und damit um Maßnahmen, die heute in Stellung gebracht werden müssen, um morgen die notwendigen Klimaziele zu erreichen. Setzt sich Kretschmanns Trugbild des "emissionsfreien" Autos der Zukunft als Leitstern durch, steuert das weit über den Autobau hinaus die gesamte Verkehrs- und Infrastrukturpolitik auf den Abgrund der Klimakatastrophe zu.

Wenngleich Kretschmanns demonstrativer Schulterschluß mit der Autoindustrie bei seiner eigenen Partei nicht immer gut ankam, die um ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit fürchten mußte, wenn die Mesalliance mit dem Klimakiller vor aller Augen stattfand, denkt offenbar niemand ernsthaft daran, ihm bei seinem Vorhaben in den Arm zu fallen. Bei den Grünen im Südwesten ist weit und breit keine Nachfolge in Sicht, da sich ihre Erfolgsgeschichte derart in dem Ministerpräsidenten verkörpert, daß in seine großen Fußstapfen niemand hineinpaßt. Seit acht Jahren gilt der Familienvater und treue Ehemann, ehemalige Lehrer und bekennender Katholik auch vielen konservativen Wählern als echte Alternative zur CDU. Man lobt ihn als Mittler zwischen den Welten, weil er den kleineren Koalitionspartner CDU schont, die Interessen der Wirtschaft fördert und darüber verhindert, den Klimaschutz konsequent voranzutreiben.

Daß er seinen Hut abermals in den Ring werfen will, kommentierten die Landesvorsitzenden der Grünen, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand, auf der Pressekonferenz mit der Huldigung, Kretschmann sei "ein hervorragender Ministerpräsident für dieses Land". Wer sonst sollte es auch richten! Die Grünen freuen sich über Kretschmanns Entscheidung. Es brauche einen Regierungschef, der Erfahrung habe, Neugier, Veränderungsbereitschaft und Zuversicht, so Detzer. "Mitte und Maß verkörpert in der Politik niemand so gut wie du, Winfried." [4] Auch die Grünen-Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sind mit Kretschmanns Entscheidung zufrieden. Er genieße hohes Ansehen und Vertrauen. "Gerade in Zeiten, in denen nationalistische und populistische Tendenzen in ganz Deutschland einen Aufschwung erfahren, schafft er mit seinem klaren Wertekompass Orientierung und Halt", so ihre gemeinsame Reaktion. Klimaschutz und der Umbau der Industrie hin zu einer fossilfreien, wettbewerbsfähigen Wirtschaft seien für Deutschland und gerade für Baden-Württemberg eine drängende Aufgabe. Als baden-württembergischer Grüner mit großem Bekanntheitsgrad sagt Cem Özdemir, der jüngst mit der Ankündigung seiner Kandidatur für den Fraktionsvorsitz im Bund beträchtliche Unruhe ausgelöst hat: "Ich habe zu denen gehört, die ihn gebeten haben, dass er noch mal antritt und freue mich jetzt so wie wahrscheinlich ganz viele Leute." Einen Nachfolger brauche es nicht, so Özdemir. "Der beste Nachfolger von Kretschmann ist Kretschmann." [5] Genau das ist allerdings das Problem nicht nur der Grünen.


Fußnoten:

[1] winfried-kretschmann.de/brief-an-die-buergerinnen-und-buerger/

[2] www.deutschlandfunk.de/gruener-ministerpraesident-kretschmann-zu-viele-kompromisse.720.de.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/362713.grüne-im-südwesten-grüner-autofreund-macht-weiter.html

[4] www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/Pressekonferenz-in-Stuttgart-Entscheidung-gefallen-Kretschmann-fuehrt-Landes-Gruene-in-die-Zukunft,kretschmann-entscheidung-politische-zukunft-100.html

[5] www.tagesschau.de/inland/kretschmann-197.html

14. September 2019


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