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HERRSCHAFT/1860: Klimakrisenbewältigung - die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen ... (SB)



Zur Zeit beschleunigt sich die Zunahme der Konzentration aller drei wichtigen Treibhausgase, Kohlenstoffdioxid, Methan und Stickstoffidoxid. Das bedeutet den Trend zur totalen planetaren Katastrophe. Wir folgen dem Trend eines Zusammenbruches der Biosphäre. Kohlenstoffdioxid nimmt in einer Rate zu, die alles übersteigt, was in den letzten Millionen Jahren gewesen ist.
Dr. Peter Carter, Gründer des Climate Emergency Institutes und Gutachter beim Fünften Sachstandsbericht des IPCC 2014 [1]

1988 wurde die Notwendigkeit einer Begrenzung des Klimawandels mit dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) auf weltpolitischer Ebene institutionell verankert. Diesem Schritt gingen Jahre der Forschung voraus, so daß das Problem der Aufheizung der Atmosphäre durch Treibhausgase seit weit über 40 Jahren auch in Regierungskreisen bekannt ist. Bis heute nimmt die Emission klimaschädlicher Gase kontinuierlich zu, nur unterbrochen durch die Weltwirtschafts- und -finanzkrise 2008, was den Zusammenhang zwischen Wachstum und Klimakrise empirisch bestätigt. Dieser Prozeß verselbständigt sich durch Faktoren in der Ökosphäre, die nur unzureichend verstanden sind, wie frühere Prognosen zeigen, die der Beschleunigung des Klimawandels hinterherhinken.

Spätestens seit der Veröffentlichung des Bestsellers Silent Spring der US-Autorin Rachel Carson 1962 sind die verheerenden Auswirkungen industriell und landwirtschaftlich bedingter Naturzerstörung allgemein bekannt. Seit den 1960er Jahren haben die Wildtierpopulationen um 60 Prozent abgenommen, zahlreiche Tierarten sind ausgestorben, dafür platzen die Bestände an sogenannten Nutztieren aus allen Nähten. Allein die Biomasse aller Rinder ist 60 Prozent größer als die aller Menschen, während etwa die verbliebenen 350.000 afrikanischen Elefanten auf weniger als 0,2 Prozent der Biomasse der 1,5 Milliarden Rinder kommen, die die Ställe und Weiden der Welt unter massiver Freisetzung von Methan und negativen Auswirkungen auf die Trinkwasserbestände bevölkern. Die zur Fleisch-, Milch- und Eierproduktion gehaltenen Schweine, Rinder und Hühner stellen nicht nur ein erhebliches ökologisches Problem dar, sie tragen durch die von ihnen konsumierten Futtermittel maßgeblich zum Hunger von über 800 Millionen und zur Mangelernährung von gut zwei Milliarden Menschen bei.

In der EU ist die Erkenntnis, daß dringend Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und Begrenzung der Naturzerstörung ergriffen werden müssen, erstmals in diesem Jahr in den Mittelpunkt regierungspolitischer Überlegungen geraten. Das ist nicht den per Amtseid zur Abwehr von Gefahren für die Bevölkerung verpflichteten AmtsträgerInnen geschuldet, sondern dem so zahlreichen und jugendlichen Protest von Fridays for Future. Deren Initiatorin Greta Thunberg hat auf dem Weltklimagipfel in Madrid erklärt, daß trotz massenhafter weltweiter Proteste gegen die Untätigkeit der Regierungen im Grunde genommen nichts erreicht wurde. Das bedeutet implizit, daß Forderungen appellativen Charakters nicht ausreichen, um irgend etwas zu bewirken. Auch wenn die inoffizelle Repräsentantin dieser Protestbewegung es nicht so ausgesprochen hat, könnte dies als Absage an weitere Versuche verstanden werden, den Weg der Veränderung über klimapolitische Stellvertreterpolitik zu gehen.

Genau das befürchten die Funktionseliten in Staat und Gesellschaft, wie zuletzt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse belegte, als er im Interview mit dem Deutschlandfunk mahnte:

Ich hoffe ja sehr, dass auch, um ein freundlicheres Beispiel zu nennen, die ungeduldige Jugend, die "Fridays for Future", die ja alles Recht haben, ungeduldig zu sein und energische Forderungen zu stellen, dass sie das immer noch verbinden mit einem entschiedenen Ja zur Demokratie, dass also die Nichtlösung der Klimaprobleme nicht etwa dazu führt, dass wir umschwenken in eine Art von Klimadiktatur. [2]

Sich als junger Mensch, der den katastrophalen Verlauf der Klimaentwicklung voll und ganz zu spüren bekommen wird, von einem 76jährigen Politiker in die Ecke eines potentiellen Feindes der Demokratie stellen zu lassen, müßte eigentlich auf scharfe Widerworte stoßen. Das um so mehr, als gerade auf bundespolitischer Ebene in der Diskussion um eine Tempobegrenzung auf Bundesautobahnen vorgeführt wird, wie gering die Bereitschaft sozial und ökonomisch privilegierter Menschen ist, auch nur kleine Zugeständnisse an die Forderungen der um ihre Zukunft fürchtenden Jugend zu machen. Der seit dem Auftreten von FfF auf politischer Ebene gerne erweckte Eindruck, man habe das Ausmaß des Problems verstanden und handle dementsprechend, wird, wie sich gerade an diesem Beispiel zeigen läßt, durch einen Freiheitsbegriff dementiert, dem hemmungsloser Ressourcenverbrauch ein zentraler Anspruch bürgerlicher Autonomie ist, während entsprechende Rechte davon betroffener Menschen nicht einmal als solche auftauchen. Wohl wissend um diese Achillesferse des liberalen Freiheitspathos wird Fridays for Future schon im Frühstadium widerständiger Entwicklung in die Schranken einer privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung gewiesen, deren juridisches Gleichheitsprimat in der realpolitischen Ungleichheit der Markt- und Staatssubjekte besteht.

Während nur jeder zweite in der Bundesrepublik lebende Mensch überhaupt ein Auto besitzt und viele AutofahrerInnen schon aufgrund des bei hohem Tempo im Verhältnis zur zurückgelegten Strecke überproportional anwachsenden Spritverbrauches eher langsamer fahren, nehmen die HalterInnen auf besonders hohen Ressourcenverbrauch ausgelegter PS-Boliden einen Verbrauchsaufwand in Anspruch, der zu Lasten aller geht, die sich nicht in gleichem Maße an den begrenzten Ressourcen bedienen, die es zum Betrieb und Bau der Fahrzeuge wie ihrer Infrastruktur aus Straßen, Parkplätzen, Tankstellen und Werkstätten bedarf. Je höher die Geschwindigkeit des motorisierten Individualverkehrs, desto mehr müssen Mensch und Natur für die Freiheit einzelner herhalten, die mit der Herrenmenschenattitüde "Freie Fahrt für freie Bürger" die Natur zerstören und andere Menschen gefährden [3].

Dies übersetzt auf die nationalchauvinistische Einstellung, nationale Ressourcensicherung sei mit allen Mitteln gegen andere Staaten und Bevölkerungen durchzusetzen, führt in neue Staaten- und Stellvertreterkriege, wie etwa der Konflikt um den Nachschub von Erdöl vom Persischen Golf zeigt, und beschleunigt den Klimawandel. Demgegenüber Klimagerechtigkeit und Systemwandel einzufordern verkörpert den Wunsch nach einem unversehrten Leben, das im neoliberalen Kapitalismus sprichwörtlich unter die Räder gekommen ist. Dieses so naheliegende wie universale Anliegen mit einem Anspruch auf den Schutz einer Demokratie zu kommentieren, in der keine Rechenschaft über die weltweit herrschende Ungleichheit und ihre systematische Vertiefung zugunsten der Steigerung des deutschen Nationalproduktes wie eine gesellschaftliche Eigentumsordnung abgelegt wird, die privilegierten Ressourcenverbrauch fördert und sichert, ist bei den vielzitierten alten weißen Männern leider immer wieder anzutreffen.

Thierse und andere PolitikerInnen verteidigen die untote Existenz einer patriarchalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung, deren Versprechen auf gleichberechtigte Partizipation schon immer des staatlichen Gewaltmonopols bedurfte, um den unanzweifelbaren Beweis seiner Gültigkeit nicht antreten zu müssen. Das von Thierse an die Wand gemalte Gespenst der Klimadiktatur wird wohl eher von den Agenturen eines grünen Kapitalismus mit gesellschaftlicher Wirkkraft erfüllt werden als von jugendlichen DemonstrantInnen, die tatsächlich allen Grund dazu haben, ungeduldig zu sein und das Konzept einer appellativen sozialen Bewegung zu überdenken.

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Fußnoten:

[1] https://www.pressenza.com/2019/12/biosphere-collapse/

[2] https://www.deutschlandfunk.de/thierse-spd-zu-gesellschaftlichen-konflikten-das-ist-die.694.de.html?dram:article_id=466665

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0100.html

27. Dezember 2019


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