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HERRSCHAFT/1862: Anwachsende Lasten - nach unten verteilt ... (SB)



"Fair" soll es zugehen auf dem Lebensmittelmarkt, landwirtschaftliche Erzeugnisse sollen wieder "wertgeschätzt" werden, so zwei Kernforderungen des sogenannten Lebensmittelgipfels, zu dem gestern im Bundeskanzleramt Politik, Landwirtschaft und Ernährungsindustrie zusammentrafen. Wie jedoch soll unter den Bedingungen des monopolkapitalistischen Weltmarktes das Verhältnis zwischen den verschiedenen AkteurInnen bei Produktion, Vermarktung und Verbrauch von Nahrungsmitteln anders organisiert werden als über geldförmige Tauschbeziehungen? Vor dem Hintergrund, daß allein Zahlungsfähigkeit darüber entscheidet, ob jemand satt wird oder verhungert, kann mit moralischen Appellen nur Sand in die Augen gestreut werden. Fairness wird immer dort gefordert, wo die soziale Konkurrenz zwischen Menschen befeuert werden soll, weil sie als Produktivfaktor gilt und nicht als feindseliger Akt, der über Leben und Tod entscheidet. "Wert" ist kein Kriterium einer Empfindung oder Einschätzung, sondern Ergebnis einer betriebswirtschaftlichen Rechnung vor dem Hintergrund kapitalistisch bestimmter Preisniveaus.

Wo das zentrale Feld der sozialen Reproduktion, die alltägliche Ernährung, mit scheinbar einleuchtenden Worthülsen derart vernebelt wird, daß die Produktwerbung, mit der es bestellt wird, demgegenüber als hochrationale Angelegenheit erscheint, ist es nicht erstaunlich, wenn die in die öffentliche Kritik geratenen LandwirtInnen nicht einsehen wollen, daß sie für die ökologisch und tierlich destruktiven Folgen der agrarischen Produktionsweise an den Pranger gestellt werden.

Zweifellos wird insbesondere bäuerlichen Kleinbetrieben das Leben äußerst schwer gemacht, wenn die von ihnen produzierten Lebensmittel nicht nur den Konkurrenzbedingungen agroindustrieller Großbetriebe in der EU, sondern dem global bestimmten und teilweise mit Hungerlöhnen und massiver Externalisierung ökologischer Kosten möglich gemachten Preisniveaus des Weltmarktes ausgesetzt werden. Diesen Zustand haben deutsche Landwirte jedoch so weit mitzuverantworten, als sie selbst über Jahrzehnte PolitikerInnen dazu ermächtigt haben, eine auf hohe Produktivität und Exportüberschüsse orientierte Agrarindustrie strukturell und durch Subventionen aller Art zu begünstigen. In der Kette landwirtschaftlicher Wertschöpfung stehen nicht sie am unteren Ende, sondern die kleinbäuerlichen ProduzentInnen im Globalen Süden, die ihrerseits an den Importen der hochsubventionierten und hochproduktiven Agrarindustrie der EU scheitern. In einer modernen Version der ursprünglichen Akkumulation werden sie in die Metropolen getrieben, wo sie das globale Elendsproletariat vergrößern, anstatt auf ihrem Land zumindest für die eigene Ernährung arbeiten zu können.

Die in der Bundesrepublik von der Marktmacht der vier großen Einzelhandelsunternehmen Edeka, Rewe, Aldi und Schwarz-Gruppe auf Minimalpreise für ihre Erzeugnisse gedrückten Landwirtschaftsbetriebe wären mithin gut beraten, nicht nur Reputationsmanagement bei einer sie vermeintlich verkennenden Öffentlichkeit zu betreiben. Weit näher kämen sie der Wurzel ihres Problems, wenn sie sich solidarisch mit den KollegInnen im Globalen Süden zeigten und auf internationalistische Weise Widerstand gegen den agrarischen Monopolkapitalismus leisteten. Das mag angesichts des Rufes der Bauernschaft, überaus konservativ und herrschaftskonform zu sein, merkwürdig klingen, ist jedoch, wie transnationale Allianzen nach dem Vorbild von La Via Campesina zeigen, ein gangbarer und sogar erfolgversprechender Weg. Schließlich wurde in dem im Auftrag der Weltbank und Vereinten Nationen von mehr als 400 WissenschaftlerInnen angefertigten und 2008 veröffentlichten International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD) einmütig festgestellt, daß es höchste Zeit für eine Agrarwende hin zur kleinbäuerlichen und ökologischen Landwirtschaft sei. Diese sei am besten dazu geeignet, die Welternährung nicht nur für kurze Zeit, sondern nachhaltig zu sichern.

Sich nicht mehr von Konzernen, Regierungen und Banken gegeneinander ausspielen zu lassen, sondern die Macht der ProduzentInnen in die eigenen Hände zu bekommen, um zusammen mit den großen Landlosenbewegungen des Südens, mit Millionen von SubstistenzbäuerInnen, mit den indigenen VerteidigerInnen des Waldes und kleinbäuerlichen Betrieben in aller Welt selbst über Produktion und Vertrieb zu verfügen, mag utopisch erscheinen, ist aber angesichts der seit Jahren aktiven agraroppositionellen Bewegung, den Ernährungsräten, den Initiativen für Ernährungssouveränität und Solidarische Landwirtschaft keine bloße Zukunftsmusik mehr. Schließlich geht es nicht nur um die Sicherstellung der täglichen Ernährung, sondern um eine Eindämmung der Klimakatastrophe, die alle Lebewesen bedroht und an deren Zustandekommen die industrielle Landwirtschaft maßgeblichen Anteil hat.

In diesem Kampf könnten die sogenannten VerbraucherInnen allemal an der Seite der BäuerInnen stehen, wenn sie sich nicht auf den Status von Marktsubjekten reduzieren ließen. Nur als solche haben sie, wie von interessierter Seite her behauptet, bei Kaufentscheidungen und Zahlungsvorgängen die Möglichkeit, auf die Produktion der von ihnen erstandenen Nahrungsmittel Einfluß zu nehmen. Dabei wird ihnen im Supermarkt ein Teil dieser Wahlfreiheit bereits dadurch abgenommen, mit einer unter spezifischen Produktionsbedingungen zustande gekommenen Produktpalette konfrontiert zu werden. Direkten Einfluß auf die Bedingungen des Landbaus und der Tierhaltung könnten sie jedoch in genossenschaftlichen Strukturen und anderen Formen kollektiver Zusammenarbeit mit den bäuerlichen ProduzentInnen als auch eigenen Formen des Gärtnerns und Anbauens nehmen. Die Mühe auf sich zu nehmen, nicht mehr nur ins Regal zu greifen, sondern selber zu organisieren, was schließlich verspeist wird, kann gerade vor dem Hintergrund des ökologischen Ernstfalls ein Akt der Emanzipation sein.

Wenn rund zwei Drittel der KonsumentInnen zu Sonderangeboten greifen, dann hat das wenig mit bloßer Vorteilsnahme und egoistischer Aneignung zu tun, wie die anläßlich des Lebensmittel-Gipfels im Kommentar auf NDR Info angeprangerte "Geiz-ist-geil'-Mentalität suggeriert, aber sehr viel mit konkreter materieller Armut. Die Arroganz von JournalistInnen, die sich scheinbar nicht vorstellen können, daß viele Menschen jeden Cent umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben, ist Ausdruck eines klassengesellschaftlichen Konsumismus, der längst über die Frage entscheidet, ob mensch sich gesund ernährt oder durch Junkfood krank wird. Die von den Unionsparteien bis zu den Grünen einseitig vorgenommene Orientierung auf den Endverbraucherpreis dampft die Vielfalt und Kreativität des Lebens auf zahlungsfähige Nachfrage und eine normative Sozialkontrolle ein, die den Menschen mit Farbampeln, Selbstoptimierungsapps und Kalorienzählerei auf bloße Artefakte biopolitischen Sozialmanagements reduziert.

Wer, wie die Grünen, vor allem die ökologisch bedingte Verteuerung von Nahrungsmitteln fordert, ohne darüber nachzudenken, wieviel Geld die EmpfängerInnen sozialer Transferleistungen und das Drittel der Bevölkerung, das im Niedriglohnsektor jobbt, zusätzlich erhalten müßten, um sich weiterhin angemessen ernähren zu können, könnte schlußendlich mitverantwortlich dafür sein, wenn diese Menschen körperlich entgleisen und chronische Krankheiten entwickeln. Wie kann auf einem Lebensmittel-Gipfel nicht darüber beraten werden, wieso viele Menschen mehr als die Hälfte ihres Familieneinkommens für die Miete ausgeben und daher Einschnitte bei der Qualität der Ernährung machen müssen? Wer ist verantwortlich für epidemische Formen der Mangelernährung und eine Milliarde Hungernder auf der Welt, wenn nicht die von Staat und Kapital betriebene Kommodifizierung der sozialen Reproduktion, also des Warencharakters aller essentiellen und unverzichtbaren Bedingungen des Lebenserhaltes?

Wenn es ein zentrales Menschenrecht gibt, dann doch der Anspruch darauf, nicht hungern und dursten zu müssen. Und doch hungern bis zu einer Milliarde Menschen und haben zwei Milliarden kein unbedenklich zu nutzendes Trinkwasser zur Verfügung. Auf dem Lebensmittelgipfel der Regierung eines der reichsten Länder der Welt, das sich an der merkantilistischen Logik einer Exportwirtschaft gesundstößt, die in den Zielregionen ihrer Investitionen und Warenexporte sozialökonomische Wüsten hinterläßt, kaum über die Dimension von Konsumentscheidungen hinauszudenken, ist ein Zeugnis jener intellektuellen Verödung, die für stets gutgefüllte Bäuche symptomatisch ist. Dem entgegenzutreten mit dem bunten und breiten Spektrum selbst geschaffener und organisierter Praktiken autonomer Lebensführung ist um so mehr geboten, als das Thema Ernährung zum Schlachtfeld von Verwertungs- und Herrschaftsinteressen zu werden droht.

4. Februar 2020


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