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HERRSCHAFT/1874: Coronavirus - reisefrei, bewegungsblockiert ... (SB)



In speziellen Situationen wie der vorliegenden, in der mit kleiner Wahrscheinlichkeit ein sehr großer Schaden droht, muss man anfangs "übertrieben" reagieren. Das Individuum erleidet dabei einen kleinen Nachteil, der kurzfristig außer Verhältnis steht, aber einen immensen Schaden von der Gemeinschaft abwendet (der am Ende natürlich wieder jedes Individuum trifft).
Alexander Unzicker - Coronavirus: Europa planlos [1]

Bei der Terrorismusbekämpfung ist im internationalen Flugverkehr kein Aufwand zu groß, um jeden Schlupfwinkel, aus dem heraus eine bedrohliche Situation entstehen könnte, zu verschließen. Bei der Abwehr einer potentiellen Pandemie wird aus opportunistischen Gründen - ökonomische Gefährdung dieser privilegierten Mobilitätsform, Verhinderung langer Wartezeiten - die Gesundheit aller riskiert. Weder wurde der Versuch unternommen, bei Einreisenden aus Risikogebieten wie China frühzeitig Testverfahren am Flughafen einzusetzen, erst recht nicht wurde erwogen, diese Flüge generell zu streichen. Nur durch die hohe Frequenz der Fernreisen und Interkontinentalflüge kann sich innerhalb weniger Wochen eine Pandemie ausbilden, die die Gesundheitssysteme überfordert und die Chance darauf, den größten Teil der Menschen durch einen Impfstoff zu schützen, drastisch verringert.

MigrantInnen können nicht genug Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, ihre Rettung aus Seenot wird sogar behindert. TouristInnen wird das Fliegen auf andere Kontinente so leicht wie möglich gemacht, und wenn es zu Schwierigkeiten kommt, scheuen die KrisenmanagerInnen keine Mühe, die Passagiere wohlbehalten nach Hause zurückzubringen. Dabei wird die zivile Passagierluftfahrt seit langem als sozialökologisch unverträgliche Mobilitätsform kritisiert. Sie erweist sich erst recht als Klassenprivileg, wenn die unkontrollierte Verbreitung einer potentiell gefährlichen Infektionskrankheit nicht auf die naheliegendste Art und Weise, das Wiederherstellen räumlicher Distanz zum Ansteckungsherd, zu verhindern versucht wird. Dem internationalen Massenverkehr per Passagierflugzeug ist es zu verdanken, daß Frankfurt und Beijing oder Hamburg und Washington kaum weiter voneinander entfernt sind als Düsseldorf und München.

Das Einschrumpfen der Welt auf die Distanz einer Tagesreise wird erkauft durch die höchste Menge an fossiler Energie pro Kopf und Kilometer, die im zivilen Flugverkehr aufgewendet wird. Erschwerend hinzu kommen die atmosphärischen Veränderungen, die die Abgase der Strahltriebwerke in hohen Luftschichten anrichten und zu deren Schädlichkeit es unterschiedliche Angaben gibt. Ganz und gar nicht relevant sind beschwichtigende Angaben, laut denen der kommerzielle Luftverkehr nur 2,5 Prozent der CO2-Emissionen auf sich vereine. Für die prinzipielle Rechnung, daß der ökologische Schaden mit der Zunahme der Geschwindigkeit überproportional zunimmt, ist relevant, was der oder die einzelne Reisende mit der Entscheidung, ein Flugzeug zu besteigen, an Treibhausgasen freisetzt.

Dennoch soll die Mehrheit der Menschen, die nie oder fast nie in ihrem Leben auf diese Weise reist, nicht nur die ökologischen, sondern auch die gesundheitlichen Kosten dieser privilegierten Verkehrsform auf sich nehmen. Warum wohl? Weil es, wie das Beispiel vergeblich vor lebensgefährdenden Bedrohungen fliehender Menschen im Extrem zeigt, nicht an ihnen ist, darüber zu befinden, wer leben darf und wer sterben muß. Die Einteilung in diejenigen, die dazugehören und diejenigen, die draußen bleiben müssen, ist die zentrale Achse, anhand derer über Zugang und Ausgrenzung entschieden wird. Was in der zivilen Luftfahrt offenkundig ist, setzt sich in der Infektionsabwehr fort, wenn leichtfertig der Ausbruch einer Epidemie riskiert und bei der daraus resultierende Überforderung des Gesundheitswesens mit dem Mittel der Triage darüber befunden werden muß, wer in den Genuß lebensrettender medizinischer Mittel kommt und wer nicht.

Die nichtvorhandene Bereitschaft der Politik, sich durch präventive Maßnahmen unbeliebt zu machen, schlägt im Ernstfall in bereitwillig in Anspruch genommene Notstandsdekrete um. Es ist weit opportuner, wie im Falle des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, erst einmal abzuwarten, um bei nicht mehr aufzuhaltender Gefahr den Macher zu simulieren, was weitere Meriten einbringt. Mündet der medizinische Ausnahmezustand in die dauerhafte Abschaffung bürgerlicher Freiheiten, was niemals auszuschließen ist, wenn verfassungsrechtliche Garantien durch Sondervollmachten aufgehoben wurden, dann haben PolitikerInnen alles richtig gemacht. Erweist sich ein beherztes Vorgehen im Sinne der im Amtseid beschworenen Verpflichtung, Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden, im weiteren Verlauf der Entwicklung als überzogen, ist die politische Karriere möglicherweise an ihr vorzeitiges Ende gelangt.

Was bleibt, ist der zum Beispiel in Feierstunden zu WiderständlerInnen gegen das NS-Regime wortreich gelobte Mut, sich nicht korrumpieren zu lassen und für die eigenen Prinzipien erhobenen Hauptes gegen einen übermächtigen Gegner anzutreten, obwohl damit das eigene Leben riskiert wird. Sich mit der unbequemen Entscheidung, den Flugverkehr befristet einzustellen, unbeliebt zu machen wäre ein Beispiel für mutiges politisches Handeln, bei dem schlimmstenfalls die Chancen auf Wiederwahl riskiert werden.


Fußnote:

[1] https://www.heise.de/tp/features/Coronavirus-Europa-planlos-4678285.html

10. März 2020


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