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HERRSCHAFT/1892: Sozialökologische Forderungen gefährden das herrschende Staatsverständnis ... (SB)



Auch die große öffentliche Aufmerksamkeit und breite Anschlussfähigkeit, die mit dem Thema "Klimaschutz" verknüpft sind, werden von Linksextremistinnen und Linksextremisten genutzt, um sich als wirkmächtige Akteure zu profilieren. Dabei verbünden sie sich offensiv und zum Teil plakativ mit zivilgesellschaftlichen Initiativen. Ihnen geht es jedoch nicht nur um effektiven Klimaschutz, sondern auch hier um eine gezielte Diskreditierung von Staatlichkeit. Darüber hinaus versuchen sie, die - zumeist jungen - Klimaakteure zu vereinnahmen und zu radikalisieren.
Aus dem Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz Berlin 2019 [1]

Den Zusammenhang von Klimaschutz und Staatskritik auseinanderzudividieren, wie vom Berliner Verfassungsschutz am Beispiel der Interventionistischen Linken und Ende Gelände getan, ist die notwendige Voraussetzung dafür, den Extremismusvorwurf an die Adresse dieser beiden Gruppen richten zu können. Die Unterstellung, aus anderen Gründen als denen des Klimaschutzes unterwegs zu sein, hängt das Anliegen, für Klimagerechtigkeit und gegen Naturzerstörung aktiv zu werden, so niedrig wie für das bekannte Regierungshandeln in dieser Angelegenheit erforderlich. Trotz des seit Jahrzehnten bestehenden Wissens um die Gefahren, die aus der Externalisierung der sozialökologischen Kosten des herrschenden Akkumulationsmodells für das Weltklima, die Biodiversität und das Leben der Menschen erwachsen, hat sich weder an der kontinuierlich anwachsenden Menge von Treibhausgasen in der Atmosphäre noch an der kapitalistischen Produktionsweise, die dazu maßgeblich beiträgt, viel geändert.

Gerade Jugendliche glauben immer weniger daran, daß es sich beim Klimaschutz um eine von mehreren Formen des Krisenmanagements handle, die bei Bedarf gegeneinander auszutarieren wären. Sie wissen sehr genau, daß der monströse Aufwand des fossilen Kapitalismus auf Kosten ihrer Zukunft geht, indem noch bestehende Chancen, die Klimakatastrophe einzudämmen, für die Aufrechterhaltung des aktuellen Geschäftsbetriebes nicht etwa verspielt, sondern bewußt aufgezehrt werden. Das Wiederhochfahren der Luftfahrt nach der pandemiebedingten Quarantäne mit erheblichen Staatsmitteln und der ungebrochene politische Einfluß der Autoindustrie sind zwei besonders prominente Beispiele dafür, wie angebliche Sachzwänge geltend gemacht werden, um den notwendigen Umbau zur sozialökologischen Gesellschaft zu verhindern.

Wer sich ausführlich mit der destruktiven Dynamik fossiler Energieerzeugung und der stofflichen Voraussetzungen des nach kapitalistischer Verwertungslogik organisierten Wirtschaftswachstums auseinandersetzt weiß, daß dieser Entwicklungspfad primär zu Lasten der Bevölkerungen des Globalen Südens geht, die konkrete Einbußen an Lebensqualität erleiden. Mehrjährige Dürreperioden, kontaminiertes Trinkwasser, vergiftete Atemluft, durch Bergbaukonzerne und Agroindustrien verödete Landschaften, endemischer Hunger - direkte wie mittelbare Folgen der Zerstörung von Natursystemen und klimatischer Bedingungen, zu der es ohne globalisierte Arbeitsteilung, am Weltmarkt orientierte Preisbildungsprozesse und eine Verwertungsform, für die menschliche Bedürfniss nur als zahlungsfähige Nachfrage in Erscheinung treten, nicht käme. Was die Lebensmöglichkeiten der Menschen im Trikont direkt angreift, bedroht die Bevölkerungen Westeuropas und Nordamerikas desto mehr, je tiefer sie im Elend der bürgerlichen Klassengesellschaft versinken.

Auch wenn der heutige Neokolonialismus die Unabhängigkeit aller in den Vereinten Nationen repräsentierten Staatssubjekte formal respektiert, hat die materielle Ungleichheit zwischen ihnen seit der Überwindung des europäischen Kolonialismus eher zu- denn abgenommen. Die beschwichtigende Botschaft, daß es auf der Erde viele Länder gibt, wo die Menschen weniger gut versorgt sind als in Bundesrepublik und EU, verfehlt ihre Wirkung nicht, einen Großteil der Deutschen zu KomplizInnen bei der Durchsetzung herrschender Verhältnisse zu machen. Die Bundesrepublik unterhält zu den weniger effizient organisierten, technisch-wissenschaftlich kaum entwickelten und industriell abgehängten Staaten ein steil abfallendes Produktivitätsgefälle, das mit der sozialen Verelendung und verkürzten Lebenserwartung der Menschen bewirtschaftet wird, die am Anfang der sogenannten Wertschöpfungskette ihre Haut unter Bedingungen der Lohnsklaverei zu Markte tragen. Den abstrakten Geldwert in der Materialität der Schmerzen und Verluste zu dechiffrieren, die ihn bedingen, ist im Sinne der vom Verfassungsschutz bekämpften Radikalisierung gerade deshalb wirksam, weil es dazu keiner Ideologie bedarf, sondern diese Erkenntnis im subjektiven Erfahrungshorizont unmittelbar evident ist.

Derartige An- und Einsichten gelten beim Verfassungsschutz als "extremistisch", weil seine AnalystInnen die Überwindung des Kapitalismus mit der Abschaffung dieses Staates gleichsetzen. Eine zumindest vorstellbare Transformation zu einer ökosozialistischen Organisation der Gesellschaft wird aus Sicht dieses Staatsschutzes außerhalb der Verfassung verortet. Das Privateigentum zu schützen bleibt aller im Grundgesetz konstatierten Gemeinwohlverpflichtung zum Trotz oberstes Gebot, was antikapitalistische Forderungen zum staatspolitischen Sündenfall macht. Wer das partikuläre Interesse der durch das Gewaltmonopol des Staates geschützten EigentümerInnenklasse vor allen anderen Fragen etwa der Herstellung sozialer Gerechtigkeit und des Erhaltes der natürlichen Lebensvoraussetzungen rangieren läßt, muß jede fundamentale Kritik daran als staatsfeindlich einstufen.

Die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes durch die Grüne Jugend, die Jusos und die Linksjugend solid trägt dieser Positionierung des Inlandsgeheimdienstes Rechnung, auch wenn es nicht explizit ausgesprochen wird. So bezieht die im Kampf gegen mutmaßliche Staatsfeinde propagierte Extremismusdoktrin ihre Gültigkeit daraus, sich auf eine ideologische Definitionshoheit zu berufen, die praktisch mit der deutschen Staatsräson identisch ist. Da das neokolonialistische Agieren im kapitalistischen Weltsystem, die nationalchauvinistisch grundierte Bereitschaft zum Führen aggressiver Kriege und das patriarchale Prinzip der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur wesentliche Merkmale dieser Staatsräson sind, erklärt sich auch, woraus die von den KritikerInnen bemängelte Unfähigkeit des Verfassungsschutzes zur Abwehr faschistischer Bedrohungen resultiert.

Wenn die radikale Linke die Überwindung des Kapitalismus fordert, setzt das den Kampf gegen den Faschismus als dessen ideologisch exponierteste und strukturell gewalttätigste Form voraus. Tut sie dies im Namen des Klimaschutzes, dann nicht, wie vom Berliner Verfassungsschutz insinuiert, unter Vorspiegelung irreführender Tatsachen, sondern in Erkenntnis des komplementären Zusammenhangs von Kapitalverwertung und Naturzerstörung. Diese Verbindung zu bestreiten, um nach dem krisenbedingten Glaubwürdigkeitsverlust des Neoliberalismus den Übergang in eine korporatistische Arbeitsgesellschaft zu schaffen, deren soziale und ökologische Maßnahmen strikt an standortpolitische Vorteilserwägungen gebunden sind, vergrößert die politische Schnittmenge zwischen den Akteuren der sogenannten Mitte und der Neuen Rechten desto mehr, als verfassungsrechtliche Garantien außer Sicht geraten, die vor der Coronapandemie noch als unhinterfragbar galten. Das erfolgreiche Abschneiden des Standortes Deutschland im globalen Wettbewerb unter Ausschaltung heutiger wie zukünftiger KonkurrentInnen wird von allen ExtremistInnen befürwortet. Ob sie sich einer imaginierten Mitte oder dem von dort aus rechts verordneten Rand zugehörig fühlen, im Streben nationaler Selbstbehauptung bis an die Schwelle des Staatenkrieges sind sie sich allemal einig.

Das Ausüben einer politischen Normenkontrolle durch einen Verfassungsschutz, der die ungleiche Verteilung politischer Macht im Schatten formalrechtlicher Legitimationsproduktion leugnet, gibt auf jeden Fall dazu Anlaß, die von ihm in Anspruch genommene politische Neutralität als Beleg für das Gegenteil zu nehmen. Für die Jugend, deren mögliche Radikalisierung IL oder Ende Gelände angelastet wird, bedeutet dies, weniger denn je allein auf technische Lösungen für das Problem der Klimakrise setzen zu können. Wenn die Widersprüche zwischen der Verfügungsgewalt von Staat und Kapital auf der einen und den gesellschaftlichen Naturverhältnissen auf der anderen Seite derart auseinanderklaffen, daß sie mit technologischer Effizienzsteigerung, der Verschleierung notwendiger Reduktionsmaßnahmen durch Netto-Null-Konstrukte oder die Reduzierung des Problems auf die Investitionslogik der Bioökonomie, des Emissionshandels und der Ökosystemdienstleistungen nicht zu brücken sind, bedarf es keiner ideologischen Indoktrination durch vermeintliche GesinnungstäterInnen, um so naheliegende wie unbescheidene Forderungen zu erheben. Der sich unvoreingenommen kundig machende Mensch entdeckt beim kritische Blick auf die herrschenden Verhältnisse schnell, daß die Chancen auf eine lebenswerte Zukunft mit jedem Moment, in dem nicht für sie gekämpft wird, weiter schrumpfen, und wird dementsprechend handeln.


Fußnote:

[1] https://www.berlin.de/sen/inneres/verfassungsschutz/publikationen/wirtschaftsschutz/verfassungsschutzbericht-2019-pressefassung.pdf

25. Mai 2020


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