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HERRSCHAFT/1902: Brasilien - ethnische Vielfalt bremst Demokratie aus ... (SB)



Es gibt in Brasilien ein riesiges (und für viele unsichtbares) Schienennetz, das auf den Abgrund zuführt. Sein Ursprung liegt in der Entmenschlichung des anderen - wie in jedem Faschismus, jeder Sklaverei, jedem Unterdrückungsregime. Die Demokratie - sie kam in unseren Favelas nie an; unser so oft beschworener Rechtsstaat - er wurde nie Wirklichkeit. Aber erst jetzt, unter der Bolsonaro-Regierung, die auch Weiße offen bedroht, scheint unser tägliches Massaker ein wenig sichtbarer zu werden. Selbst die Covid-19-Pandemie hat den Genozid nicht gestoppt. In Brasilien enden die Militärdiktaturen immer nur für die Weißen, nie für die Schwarzen.
J. P. Cuenca (Brasilianischer Autor und Filmemacher) [1]

Jair Bolsonaro ist nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel über Brasilien gekommen. Rassismus ist der brasilianischen Gesellschaft zutiefst eingebrannt, die hellhäutigen Eliten und die Bevölkerungsteile mit dunklerer Hautfarbe aller erdenklichen Schattierungen trennen Welten. Macht, Ausbeutung und Anhäufung von Reichtum zu Lasten unterworfener und ausgeplünderter Elendsheere nehmen im größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas extremste Züge an. Der Wechsel von der Militärdiktatur zur Demokratie und nun wieder zu einem autoritären Regime unter einem rechtsextremen Präsidenten war eine Entwicklung, die insbesondere die höheren und mittleren Gesellschaftsschichten betraf. Für die indigenen Völker im tropischen Regenwald, die Landlosen und die Menschen in den Favelas hat sich insofern nichts grundlegend geändert, als sie durchgängig rassistischen Übergriffen, Verelendung und Vernichtungsgewalt ausgesetzt sind.

Zudem ist Bolsonaro keineswegs ein Präsident, der den Wahlsieg erschlichen und erst hinterher seine wahren Absichten enthüllt hätte. Der ehemalige Hauptmann der Fallschirmjäger und langjährige Hinterbänkler im Parlament hat aus seiner faschistischen Gesinnung nie ein Hehl gemacht und seinen Landsleuten schon vor zehn Jahren angekündigt, was sie von ihm zu erwarten hätten, käme er denn ans Ruder, was damals freilich absolut irrelevant anmuten mochte. Er war auch kein Einzelgänger, der im Alleingang einen Coup gelandet hätte, sondern wurde von den Militärs als Kandidat aufgebaut, die nun in seinem Kabinett vertreten sind, das sie letztlich kontrollieren und steuern. Er hat es verstanden, mit den Streitkräften, der Agrarindustrie und den Evangelikalen die einflußreichsten gesellschaftlichen Kräfte zu seiner Unterstützung zusammenzuführen. Zugleich spricht er aber auch breiten und vornehmlich weißen Kreisen der Bevölkerung aus dem Herzen, die ihren Wohlstand und ihre Sicherheit über alles setzen und die Rückständigen im Urwald, die Hungerleider in den Armutsquartieren und sonstiges Gesindel auf den Straßen verachten und mit harter Hand gebändigt oder beseitigt haben wollen. Wenngleich Diktatur und Bürgertum keineswegs identisch sind, stehen sie einander doch sehr viel näher als den Verworfenen auf der anderen Seite der Klassengesellschaft.

Brasilien, das als letzte westliche Nation die Sklaverei erst im Jahr 1888 abschaffte, hat seinen strukturellen Rassismus nie überwunden. Wenngleich sich eine fragile Identitätspolitik in jüngerer Zeit für eine Milderung einsetzte, finden sich die Unterschiede nicht nur im Einkommen und Zugang zu Bildung und Gesundheit wieder, sondern auch in viel brutaleren Zahlen. 42.000 Menschen wurden 2019 ermordet, zwei Drittel von ihnen waren schwarze Männer, die meisten zwischen 15 und 29. Die wohl gewalttätigste Polizeitruppe der Welt tötete rund 6000 Menschen, wobei mehr als 75 Prozent ihrer Opfer schwarz sind. Selbst die Pandemie hat sie nicht gestoppt. Im April tötete Rios Polizei 60 Prozent mehr Menschen bei Operationen in Armenvierteln als im Vorjahresmonat.

Der Genozid war immer präsent, die Ausrottung junger Schwarzer und das Fehlen grundlegender Bürgerrechte für Bevölkerungsgruppen wie Indigene, Kleinbauern und Fischer wurde von keiner Regierung der Neuen Republik seit 1988 mit Dringlichkeit behandelt. Das gilt auch für die Jahre sozialdemokratischer Regierungen unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) sowie während des links-reformistischen Zyklus der Arbeiterpartei (2003-2016) unter Luiz Inacio Lula da Silva und Dilma Russeff. Der Staat kriminalisierte die Armen durch den mörderischen "Krieg gegen die Drogen" oder vertrieb sie von ihrem Land durch zerstörerische Großprojekte wie das Wasserkraftwerk Belo Monte. Wer die brutalen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaftsordnung zur Sprache wird, wird ignoriert oder mit dem Tode bedroht.

Eine Art Blaupause für den Bolsonarismus lieferte der Film "Tropa de Elite", der den Goldenen Bären der Berlinale 2008 gewann. Es war ein Werk, das sich als Anklage verkleidete, in Wirklichkeit aber den Gegenstand seiner Kritik feierte und in Brasilien erstmals seit der Redemokratisierung einen neofaschistischen Diskurs normalisierte. Wenige Monate nach der Premiere forderte der Abgeordnete Flavio Bolsonaro (Sohn des jetzigen Präsidenten), daß das Symbol der im Film dargestellten Sondereinheit Bope, ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Pistolen, zum Kulturerbe von Rio de Janeiro werde. Zehn Jahre später trat sein Vater im Wahlkampf in Polizeikasernen auf und brüllte den Slogan der Elitetruppe: "Totenkopf!"

Im Jahr 1998 verteidigte der Abgeordnete Jair Bolsonaro in einer Rede die Studenten der Militärakademie von Porto Alegre, weil sie Adolf Hitler zur meistbewunderten historischen Persönlichkeit gewählt hatten: "Sie wählten jemanden, der es verstand, Ordnung und Disziplin durchzusetzen." Vier Jahre später sagte Bolsonaro: "Hitler war ein großer Stratege." 2018 lautete der Slogan von Bolsonaros Wahlkampagne: "Brasilien über alles". Bolsonaros Kommunikationsabteilung enthüllte in diesem Monat eine Kampagne unter dem Motto: "Arbeit, Einheit und Wahrheit machen frei." Als Brasiliens Kulturstaatssekretär Ricardo Alvim in einer Rede im Januar Joseph Goebbels paraphrasierte und den Nazi-Propagandaminister nachahmte, gab es nur einen kleinen Skandal. Im kürzlich veröffentlichten Video einer Kabinettssitzung führt Wirtschaftsminister Paulo Guedes den nationalsozialistischen Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht als gutes Beispiel dafür an, wie man sich militarisierte Arbeitskräfte zunutze machen könne.

Kürzlich demonstrierten Bolsonaro-Anhänger mit Fahnen des franquistischen Spaniens und der Sammelbewegung der ukrainischen Rechtsextremisten, Pravyi Sektor, im Zentrum von Sao Paulo. In Brasilia marschierten in der Nacht Maskierte mit Fackeln vor dem Verfassungsgericht auf und imitieren die Symbolik rassistischer Gruppen aus den USA. Tags darauf teilte Bolsonaro auf Twitter ein Video mit einem Satz, der Benito Mussolini zugeschrieben wird und den auch Donald Trump 2016 zitierte: "Es ist besser einen Tag als Löwe zu leben als 100 Jahre als Schaf." Der Bolsonarismus kehrt zu den faschistischen Ursprüngen zurück, was niemanden überraschen sollte, hat er doch seine Herkunft und angestrebte Zukunft nie verheimlicht. Daß seine 57 Millionen Wähler allesamt getäuscht worden seien, läßt sich als hilfloser Erklärungsversuch kaum aufrechterhalten.

Wie aggressiv und weitreichend Bolsonaro bei seinem Kulturkampf "gegen die kommunistische Unterwanderung" selbst die Geschichte des schwarzen Widerstands zu okkupieren und umzuschreiben trachtet, dokumentiert die feindliche Übernahme der Palmares-Stiftung, die als eine der wichtigsten Kulturinstitutionen des Landes gilt. Sie ist nach einer Siedlung benannt, die um 1600 von entflohenen Sklaven gegründet wurde, und dient der Förderung der schwarzen Kultur. Palmares hat fast ein Jahrhundert den Angriffen der Kolonialregierungen getrotzt, sich sogar zu einer Republik der Schwarzen entwickelt und in ihrer besten Zeit bis zu 30.000 Bewohner umfaßt. Ihr wichtigster, legendärer Anführer war Zumbi dos Palmares, den nicht nur die schwarze Bevölkerung Brasiliens bis heute als Befreiungskämpfer verehrt.

Die Palmares-Stiftung wurde 1988 nach der Diktatur gegründet und erlebte Anfang des letzten Jahrzehnts durch die Regierung von Lula da Silva und den ersten farbigen Kulturminister Gilberto Gil einen enormen Aufschwung, sorgte sie doch durch viele Maßnahmen für eine hohe Anerkennung der historischen Leistung des Befreiungskampfes der Schwarzen. Seit Jair Messias Bolsonaro Ende 2018 ins höchste Staatsamt gewählt wurde, hat sich die kulturelle Situation des Landes dramatisch verändert. Der Präsident hat mit dem rechtsgerichteten schwarzen Aktivisten Sergio Camargo einen Handlanger gefunden und mit der Führung der Stiftung beauftragt, der seine rassistischen Attacken perfekt umzusetzen verspricht.

Camargo hatte sich in zahlreichen journalistischen Beiträgen als ein Vertreter der rechten Werteunion empfohlen, welche die Greuel der Kolonialzeit und der Militärdiktatur beschönigt und ein neues Geschichtsbild durchsetzen will. Auf Facebook schrieb er beispielsweise, es gebe in Brasilien nur einen "Nutella-Rassismus". "Wirklicher Rassismus existiert nur in den USA. Der Sklavenhandel war zwar schrecklich, aber er nützte den Nachkommen, denn sie lebten besser als die Schwarzen in Afrika. Heute beschweren sie sich immer noch über Rassismus, weil sie dumm und von der Linken desinformiert sind."

Für den Befreiungskämpfer Zumbi dos Palmares hat der neue Präsident der Stiftung nur Verachtung: "Ich muss diesen Zumbi nicht bewundern, denn für mich ist er ein Hurensohn, der Schwarze versklavt hat." So äußerte er sich in einem Gespräch mit Funktionären der Stiftung, dessen Tonaufzeichnung einer großen Tageszeitung zugespielt und von dieser veröffentlicht wurde. Darin fordert Camargo seine Angestellten auf, ihm jeden Linken sofort zu melden, der der personellen Säuberung des Instituts entgangen ist, "damit ich diesen Schweinehund rausschmeißen kann". Überdies machte er die Dachorganisation der schwarzen Bevölkerung für das Verschwinden eines Handys verantwortlich: "Wer das gemacht haben könnte? Na, die Schwarzen-Bewegung. Sie sind hier eingedrungen, diese schwarzen Vagabunden, dieser verdammte Abschaum."

Wie alle rechten Ideologen stellt er das Verhältnis von Tätern und Opfern auf den Kopf, indem er eine Unterdrückung von Seinesgleichen durch ein linkes Establishment erfindet. Er will Schluß machen mit diesem "von der Linken manipulierten historischen Revanchismus" und die Geschichte vom Widerstandskampf der Schwarzen ausgerechnet mit Hilfe der Palmares-Stiftung umschreiben. Künftig möchte er allen Leuten seines Glaubens, die Rassist genannt werden, von der Stiftung durch ein Siegel bescheinigen lassen, daß sie "garantiert nicht rassistisch" seien. Für ihn sind solche Überzeugungstäter "Opfer", die "ungerechterweise der rassistischen Diskriminierung durch eine öffentliche Diffamierungskampagne der Linken" bezichtigt worden sind.

Nach der Veröffentlichung seiner Aussagen raste ein Sturm der Entrüstung durch die Medien, und die "Schwarze Koalition für Menschenrechte" hat inzwischen Klage bei der Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilia eingereicht. Sie fordert die unverzügliche Amtsenthebung Camargos wegen "fortgesetzter Verletzung der Stiftungsnormen und Eingriff in die Grundrechte der Schwarzen". [2] Dem Stiftungsleiter und Sprachrohr des Regimes das Handwerk zu legen dürfte angesichts seiner Rückendeckung von höchster Stelle nicht einfach sein. Noch viel schwieriger gestaltet sich indessen der Versuch, Jair Bolsonaro loszuwerden. Wenngleich es Dutzende Gründe gibt, sein Treiben zu beenden, und am Wochenende Zehntausende Menschen trotz Corona in mehreren Großstädten auf die Straßen und Plätze strömten, um seine Absetzung zu fordern, reicht das nicht aus.

Der Unterschied zwischen der Anhängerschaft Bolsonaros und einer saturierten demokratischen Bürgerlichkeit, die ihn duldet, solange er ihre Pfründe garantiert, und die Drangsalierung der Schwarzen und Indigenen ignoriert oder sogar kaum verhohlen gutheißt, ist nicht grundsätzlicher Natur. Die Fronten der fundamentalen Widersprüche in der brasilianischen Klassengesellschaft verlaufen anderswo. Wenngleich Bolsonaro die Dominanz der "Bibel-, Blei- und Bullenfraktion" im Präsidentenpalast verkörpert, bleibt er eine austauschbare Galionsfigur der Militärs, die unmittelbar nachrücken würden, sollten sie ihn für kontraproduktiv erachten. Der General und Vizepräsident Hamilton Mourao mimt neben dem aufbrausenden Bolsonaro den besonnenen Staatsmann, gilt aber unter Regierungskritikern als noch härterer Hund. Wes Geistes Kind Mourao ist, unterstreicht seine jüngste Äußerung zu den Protesten. Die Demonstrierenden gegen die Regierung seien allesamt "Delinquenten", die einem "internationalen Extremismus" anhingen. Die Polizei müsse deshalb hart durchgreifen. [3]

Bolsonaros Macht beruht vor allem darauf, daß sich der überwiegende Teil der Militärs hinter ihn stellt. Würde er beispielsweise durch ein Amtsenthebungsverfahren abgesetzt, rückten die Militärs auch offiziell in die erste Reihe der Regierung vor. Um diesen Komplex auszuhebeln, bedarf es wesentlich weitreichenderer Gegenentwürfe und deren Verankerung in der Gesellschaft, als einem sich immer wahnwitziger gebärdenden Präsidenten den Laufpaß zu geben.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/kultur/rassismus-faschismus-militarismus-ein-blick-in-die-finstere-seele-brasiliens/25888192.html

[2] www.deutschlandfunk.de/rassismus-in-brasilien-wie-ein-schwarzer-rechter-die.691.de.html

[3] www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/brasilien-jair-bolsonaro-coronavirus-militaer

10. Juni 2020


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