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HERRSCHAFT/1905: Gewerkschaften versus SPD - Industrielastverschleppung verhindern ... (SB)



"Die ausgewogene Mitte fehlt. So kann sich die SPD als Volkspartei nicht halten." Den neuen Kurs der Parteiführung bezeichnete er als "linkspopulistisch". Er frage sich, wer von den Beschäftigten in der Automobilindustrie noch die Sozialdemokraten wählen solle.
Michael Brecht (Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Daimler) [1]

Deutscher Gewerkschaftsbund und IG Metall üben heftige Kritik an der SPD-Führung, weil sie beim Konjunkturpaket der Koalition eine Prämie für den Kauf von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor verhindert hat. Sie beschwören den alten Filz aus deutscher Gewerkschaftsführung und Sozialdemokratie, eine Arbeiteraristokratie zu Lasten aller anderen Lohnabhängigen zu alimentieren, im Kampf um Standortvorteile den Burgfrieden zu besiegeln und Arbeitskämpfe einzuhegen und zu verhindern. Wie schon bei der Braunkohle erweisen sie sich abermals als bornierte Bremser im Kampf gegen die Klimakatastrophe und versuchen, jegliche Konversion zu verhindern.

Um ihren Absturz in die Bedeutungslosigkeit zu bremsen, hat sich die SPD eine links angehauchte Führung verpaßt, die unter Beschuß des konservativen Establishments der Partei steht. Wo immer zaghafte Signale kritischen Geistes gesetzt werden - ob gegen ungehemmten Militarismus, latenten Rassismus in Kreisen der Polizei oder nun gegen fossilistischen Automobilismus - stets stehen inner- wie außerparteiliche Heckenschützen Gewehr bei Fuß, um das Führungsduo zur Räson zu bringen und die Sozialdemokratie auf den Pfad staatstragender Klassenpolitik von oben zu verpflichten.

Eng umschlungen taumeln Gewerkschaft und SPD um so schneller dem Abgrund entgegen, je weniger es an Pfründen für ihre schrumpfende Klientel zu verteilen gibt. Ihren historischen Beitrag zum Aufstieg der Bundesrepublik zur europäischen Führungsmacht haben sie mit Sozialpartnerschaft, Agendapolitik und Kriegskurs längst abgegolten. Sie haben Aufbegehren befriedet, Widerstand eingehegt und Kampfbereitschaft in einem Maße verödet, daß ihre essentielle Funktion im Getriebe der herrschenden Verhältnisse obsolet geworden ist. Wo immer radikale Umwälzungen unverzichtbar sind, um der multiplen Krise etwas entgegenzusetzen, stellen sie sich als anachronistische Torwächter in Positur, um jeglichen Ausbruch aus dem einstürzenden Überlebensversprechen zu nicht länger gültigen Konditionen zu verwehren. Kurzum, sie haben sich selber überflüssig gemacht.

Was gäbe es für kämpfende Gewerkschaften nicht alles zu tun! Sie könnten die SPD zur Rechenschaft ziehen und vor sich hertreiben, um Hartz IV abzuschaffen und das Unwesen von Leiharbeit, Werkverträgen oder Befristungen zurückzudrängen. Sie könnten mit aller Macht darauf pochen, daß aus dem 130 Milliarden Euro schweren Konjunkturpaket etwas für jene abfällt, die am dringendsten darauf angewiesen sind. Sie könnten die bedrohten Arbeitsplätze durch organisierten betrieblichen Widerstand verteidigen, sich für verkürzte Arbeitszeit bei vollem Lohn, vor allem aber eine zukunftsträchtige und gesellschaftlich sinnvolle Produktion einsetzen. Sie könnten die Frage, wer die Zeche bezahlen soll, mit den insgesamt 277 Milliarden Euro beantworten, die Volkswagen, Daimler und BMW im vergangenen Jahrzehnt verdient haben. All das und vieles mehr gäbe es zu erstreiten. Doch statt dessen werfen sie der SPD vor, sie lasse die Arbeiterschaft in der Autoindustrie im Stich, weil ihre unisono mit den Konzernen geforderte Kaufprämie für Diesel und Benziner entschwunden ist. Krisenkorporatismus kennt offenbar keine Grenzen, selbst Lohnverzicht per Solidartarifvertrag reicht als Handlangerdienst nicht aus, wo es die Profite deutscher Autobauer im Schulterschluß zu sichern gilt. [2]

Es grassiert die Furcht vor der "schlimmsten Rezession in Friedenszeiten seit 100 Jahren", wie es in einem OECD-Bericht heißt. Im April sanken die deutschen Exporte um 31 Prozent. 7,3 Millionen Menschen sind in Kurzarbeit. Mit dem Abbau von bis zu 100.000 Stellen rechnet allein die Autobranche. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind ihre Aufträge wegen der Corona-Krise um 32 Prozent zurückgegangen, die Inlandsnachfrage brach im April um 70 Prozent ein. 2019 lag der Anteil von E-Autos, die durch das Konjunkturpaket weiter gefördert werden, bei den Neuzulassungen bei drei Prozent. [3]

Die Regierungen der "Autoländer" Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, die Automobilbranche wie auch IG Metall und Betriebsräte aus der Auto- und Zulieferindustrie hatten vehement eine Kaufprämie auch für Diesel und Benziner gefordert. Sie kritisieren die SPD in scharfer Form, sie habe ein Programm mit stärkerer konjunktureller Breitenwirkung verhindert. Statt all jenen Menschen Geld in die Hand zu geben, die es am dringendsten zur Bewältigung ihres Alltags benötigen und folglich sofort wieder unter Ankurbelung der Wirtschaft ausgeben würden, setzte die geforderte Kaufprämie für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren die durchaus fragwürdige These in die Welt, dadurch würde der Verkauf vergleichsweise teurer Neuwagen im Inland spürbar forciert. Die Vorstellung, man könne geradewegs zur altvertrauten konsumistischen Normalität zurückkehren, steht jedoch in mehrfacher Hinsicht auf tönernen Füßen. So ist völlig ungewiß, ob angesichts diverser Krisenszenarien tatsächlich viele Neuwagen abgesetzt werden und größere Summen, wo sie denn überhaupt zur Verfügung stehen, nicht eher zurückgehalten oder anders eingesetzt werden.

Zudem blendet der Wunsch, es möge alles schnell wieder so wie vorher sein, völlig aus, daß schon vor Corona eine schwere Krise der Weltwirtschaft im Anmarsch war und die Klimakatastrophe längst spürbar hereinbricht. Angesichts dieser akuten Bedrohung die Gelegenheit auszuschlagen, die Weichen anders zu stellen, und ausgerechnet den Kauf von Autos mit Verbrennungsmotoren mit Prämien zu fördern, mutet aberwitzig an. Daß nicht einmal der allererste Schritt in Angriff genommen werden sollte, geschweige denn auch die E-Mobilität und darüber hinaus den gesamten Individualverkehr in Zweifel zu ziehen, von der Wachstumsdoktrin ganz zu schweigen, zeugt von einer erschreckenden Wagenburgmentalität in Gewerkschaftskreisen.

Dabei geht die ökologische Ignoranz Hand in Hand mit einer politisch reaktionären Fixierung auf die sogenannte Mitte der Gesellschaft, die zu verlassen der SPD vorgeworfen wird. So warnte der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann: "Ihr müsst auch auf die Industrie und die Arbeitnehmer schauen, wenn ihr die AfD klein halten wollt." Als ließe sich der Rechten das Wasser abgraben, indem sie in Gleichsetzung der Interessen von Kapital und Lohnabhängigen auf ihrem Terrain übertrumpft wird, gießt der DGB-Vorsitzende Wasser auf die Mühlen einer nationalen Standortpolitik, die sich zu Lasten auswärtiger Volkswirtschaften auch in dieser Krise durchsetzen soll, koste es, was es wolle, für den Rest dieser Welt.

Wer wie der eingangs zitierte Michael Brecht der angeblich linkspopulistischen SPD mit dem Verlust ihr Position als Volkspartei droht, wähnt sie offenbar nur in politischer Dienstleistung an der Automobilindustrie im Schoße der Gesellschaft. Auch der Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg, Roman Zitzelsberger, klagt: "Die SPD hat unsere Einwände nicht wahrgenommen. Es ist aber ein Fehler zu glauben, man könne die Technologie von morgen fördern, ohne das Hier und Heute zu stabilisieren." Dieses Standardargument gegen jede Konversion, wer sie auch nur in Angriff nehme untergrabe das gesamte Fundament und vernichte Arbeitsplätze, unterstreicht das konservative Festhalten an einer höchst fragwürdigen industriellen Produktion, als seien Scheuklappen zur Ausblendung aller Zerstörungsfolgen höchste gewerkschaftliche Tugend. "Insbesondere im Wahljahr 2021 wird kein Kanzlerkandidat Interesse an steigenden Arbeitslosenzahlen haben", winkt der Metallgewerkschafter der SPD-Führung mit dem Zaunpfahl schwindender Wählergunst, sofern sie sich auch nur die geringsten emanzipatorischen Ausrutscher leiste.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet mimt mit unverhohlener Häme Verwunderung angesichts der vermeintlichen Blöße, die sich die SPD seines Erachtens gibt: "Es war früher ein Grundsatz sozialdemokratischer Politik, fest an der Seite der Industriearbeiter, der Polizisten und anderer Arbeitnehmer zu stehen. Dass das in der SPD so leichtfertig aufgegeben wird, erstaunt mich." Die Art und Weise, wie sich Sozialdemokraten von dem Ziel eines Industrielandes Deutschland in Fragen der Industrie- oder der Energiepolitik verabschiedeten, verwundere ihn. "Für mich ist darüber hinaus irritierend, auf welche Weise die SPD-Vorsitzende über unsere Polizei und die innere Sicherheit spricht", vergißt der um die Kanzlerkandidatur der Union ringende Laschet nicht, mit einer vollen Breitseite auch gegen Saskia Esken nachzulegen.

Die SPD wolle "linker sein als die Linke und grüner als die Grünen", behauptet der Vizepräsident des Verbandes Kommunaler Unternehmen (VKU) für Energie, Guntram Pehlke. "Aber ich glaube, im Zweifelsfall wählen die Leute das Original", empfiehlt auch er der Partei dringend, wie der Schuster bei seinen Leisten zu bleiben. Nicht um Inhalte und deren Diskussion geht es hier, sondern um angebliche Markenkerne im politischen Konsumismus und die Grenzen angestammter Reviere, jenseits derer nach dieser Lesart die unstatthafte Wilderei beginnt. Das sieht Dietmar Bartsch offenbar genauso, der von einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei träumt: "Eine Mitte-links-Regierung hat dann eine Chance, wenn jede der drei Parteien ihre Hausaufgaben macht." Es sei "nicht klug, wenn sich die SPD hart links oder besonders ökologisch gibt. Die Sozialdemokraten müssen die gesellschaftliche Mitte ansprechen." Die Angst, von der SPD links überholt zu werden, wie sie in diesem Kalkül anklingt, ließe sich natürlich auch anders bannen, als nur die Sozialdemokraten wieder nach rechts zurückzuschieben und ihnen dabei dicht auf den Fersen zu bleiben.

Unterdessen hat der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans die Kritik der Gewerkschaftsvertreter entschieden zurückgewiesen: "Zu behaupten, die SPD vernachlässige die Industriearbeitnehmerschaft und habe die Einwände der Arbeitnehmerschaft des Fahrzeugbaus nicht wahrgenommen, ist mit Blick auf dieses auch industriepolitisch proppenvolle Konjunkturpaket nicht in Ordnung." Man weigere sich lediglich, einer teuren und in der Wirkung von vielen Fachleuten bezweifelten "Symbolforderung der Autoindustrie" Folge zu leisten. "Klar ist: Die SPD hat bisher in jedem Koalitionsausschuss die Interessen der Arbeitnehmerschaft ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Das war auch beim letzten Mal so. Und das sieht man dem Konjunkturpaket auch an." Er führe regelmäßig Gespräche mit den Gewerkschaften und stelle nicht in Frage, daß der Fahrzeugbau die Schlüsselindustrie in Deutschland ist. Es sei aber nicht in Ordnung, wenn Autokonzerne ihre Belegschaft in Sorge versetzten, weil sie den Erhalt der Arbeitsplätze in einen direkten Zusammenhang mit einer Subventionierung des Kaufpreises durch die Steuerzahler setzten. "Ich bleibe dabei: Wenn sich die deutschen Autohersteller von einer Kaufprämie zusätzliche Umsätze versprechen, dann sollten sie Teile ihrer Rekordgewinne der vergangenen Jahre dafür einsetzen."

Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren - daß Walter-Borjans an dieser Maxime kapitalistischen Wirtschaftens zumindest kratzt und im Zuge der Krisenbewältigung zur Abwechslung wenigstens eine Prise Umverteilung ins Gespräch bringt, läßt die Meute Verrat heulen. Das sinkende Schiff einer wachstumsgestützten, profitgetriebenen und die Besitzverhältnisse mit dem Gewaltmonopol schützenden Gesellschaftsordnung zu verlassen, um womöglich sogar ein ökosozialistisches Rettungsboot klar zu machen, ist freilich weder Sache der Gewerkschaften noch der Sozialdemokratie. So wird das Kriegsbeil rasch wieder begraben und vom Grundsatz her Einigkeit beschworen, ehe eine keynesianische Debatte oder Schlimmeres die beiderseitige Mitgliedschaft infiziert. "Meine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften funktioniert konstruktiv und vertrauensvoll und ist in ihren Grundfesten unerschütterlich", beteuert Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. DGB-Chef Hoffmann sieht seinerseits kein Zerwürfnis: "Es gibt einen handfesten Konflikt um ein Sachthema." Von einem Grundsatzkonflikt könne jedoch keine Rede sein. [4]


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/deutschland/article209518877/Industriepolitik-So-kann-sich-die-SPD-als-Volkspartei-nicht-halten.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/379857.büttel-der-konzerne.html

[3] www.faz.net/aktuell/politik/inland/kaufpraemie-fuer-autos-spd-chef-weist-kritik-von-gewerkschaften-zurueck-16814502.html

[4] www.spiegel.de/politik/deutschland/dgb-chef-reiner-hoffmann-warnt-spd-vor-erstarken-der-afd-a-20a41f9f-2c97-49f8-9afd-4403f5a8d7ac

15. Juni 2020


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