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PROPAGANDA/1334: Krawalljournaille will von ökonomischer Gewalt nichts wissen (SB)



Wer genau "Krawall" bei der 1. Mai-Demonstration in Berlin-Kreuzberg gemacht hat, scheint nicht so eindeutig geklärt zu sein, wie es die Prätorianer der einen Wahrheit in den Redaktionen der großen Medien zu wissen behaupten. Wenn die Veranstalter die Zahl von mindestens 136 verletzten Demonstranten angeben, unter denen mehr als 50 wegen zum Teil schwerer Kopfverletzungen im Krankenhaus behandelt werden mußten, dann wirkt die Zahl von 273 verletzten Polizeibeamten, von denen 14 nicht weiterarbeiten können, nicht so spektakulär, wie sie feilgeboten wird. Der Tageszeitung junge Welt (04.05.2009) ist zu entnehmen, daß Polizisten in voller Kampfmontur die Demo bereits kurz nach ihrem Beginn mit Pfefferspray und Schlagstock attackierten. Zudem hätten die Beamten laut Augenzeugen auch Besucher des sogenannten Myfestes angegriffen und zum Teil schwer verletzt.

Das Motto des Zuges "Kapitalismus ist Krieg und Krise!" könnte nicht sinnfälliger bestätigt werden, wenn dem Gros der Medien zu den Ereignissen am 1. Mai nicht mehr einfällt, als die Schuld für die Eskalation einseitig den Demonstranten anzulasten und sich darüber befriedigt zu zeigen, daß diese keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung der Bundesrepublik seien. Der vom Berliner Innensenator Ehrhart Körting gezogene Vergleich, der das Verhalten der Demonstranten als eine Art Massenvergewaltigung darstellte, dokumentiert das ganz normale, in Fabrik und Büro ebenso wie in Politik und Medien anzutreffende Selbstverständnis patriarchalischer Verfügungsgewalt, stets Herr über Unterlegene zu sein. Wer dem politischen Gegner anlastet, mit seinen Aktionen auf obsessive Weise sexuelle Gewalt zu kompensieren, stellt lediglich seine eigene Affinität zu Vergewaltigungsfantasien unter Beweis.

Indem die Debatte um "soziale Unruhen" in konkrete Auseinandersetzungen mündete, konnte die auf den Kundgebungen der Gewerkschaften zum 1. Mai beklagte soziale Polarisierung im zweckdienlichen Kontext eines Gewaltproblems verortet werden, dessen Symptome systematisch mit den Ursachen vertauscht werden. Ökonomische Widersprüche überhaupt mit Gewalt zu identifizieren liegt den Agenturen der Meinungsmache ebenso fern, wie ihnen die Diffamierung des Subproletariats und der radikalen Linken als mit dem Mittel polizeilicher Gewalt zu bekämpfender Störfaktor Programm ist. Wo sich Bürger in ihrer Verarmung wehren, werden sie als Dissidenten einer Ordnung bekämpft, die desto harmonischer sein soll, je krasser die Lebensbedingungen auseinanderklaffen. So wird die Krisenbewältigung der Bundesregierung ausschließlich unter dem Vorzeichen eines gesamtgesellschaftlichen Problems inszeniert, um vergessen zu machen, daß Lohnabhängige mit Leib und Leben für einen Kapitalismus haften, dessen Nutznießer schlimmstenfalls eine graduelle Minderung ihres Reichtums zu befürchten haben, wenn das Verwertungssystem an seine Grenzen stößt.

Die Kommentare zu den Ereignissen in Berlin bedienen sich mit der Beschwörung einer Rechtsstaatlichkeit, deren Durchsetzungskraft durch ein sicherheitsstaatliches Gewaltmonopol gewährleistet wird, das sich in atemberaubender Geschwindigkeit seiner verfassungsrechtlichen Beschränkungen entledigt, einer Demagogie, die unverblümtes Insistieren auf die Durchsetzung herrschender Raubverhältnisse signalisiert. Wenn die zunehmende Observation des einzelnen Menschen, die restriktive Kontrolle seiner Lebensführung, die Ausbildung geheimpolizeilicher Strukturen, die Aushebelung grundrechtlicher Prinzipien durch präventive Strafverfolgung, die Kriminalisierung bloßer Gesinnungen und das mit populistischen Vorwänden geschmierte Ergreifen regelrechter Zensurmaßnahmen unter dem Titel des Rechtsstaats zu alternativlosen Maßnahmen gegen eine numinose Bedrohung verabsolutiert werden, während die Agenturen ökonomischer Macht unumkehrbare Verhältnisse schaffen und die ihnen verpflichteten Herolde der sogenannten Öffentlichkeit jede oppositionelle Regung, die sich dieser Ordnung widersetzt, in vorauseilendem Gehorsam einem bewährten Feindbild zuordnen, dann braucht man keine Mutmaßungen über "sozialen Unruhen" anzustellen. Der Sozialkampf ist in vollem Gange, und wer dies noch nicht mitbekommen hat, klammert sich an die Hoffnung, daß es so schlimm nicht kommen wird. Er vergißt dabei, daß ein Staat stets die Interessen derjenigen repräsentiert, die am meisten dazu in der Lage sind, sich seiner zu bedienen.

4. April 2009