Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1338: Restaurative Geschichtspolitik am Beispiel Kurras (SB)



Das Signet der "Verschwörungstheorie" behält die bürgerliche Presse all denjenigen vor, die Behauptungen systemapologetischer Art in Frage stellen. Das hindert die Verfechter herrschender Wahrheiten nicht daran, ihrerseits mit waghalsigen Konstrukten aufzuwarten, wenn sich die Hegemonie ihrer Leitdoktrin dadurch stärken läßt. Bis zur Aufdeckung seiner Agententätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR galt der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras als schlimmstenfalls tragische Figur des an und für sich gerechten Kampfes des Staates gegen die kommunistische Unterwanderung der Bundesrepublik. Der tödliche Schuß auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 wurde ihm von der Springer-Presse als Notwehrhandlung ausgelegt, und sein wiederholter Freispruch aus Mangel an Beweisen erfolgte im Gleichschritt mit einer Verdammung der Demonstranten, der gegenüber der persische Schah als gütiger Regent und die schlagkräftige Westberliner Polizei als moderate Ordnungsmacht wirkten.

Inmitten der Restauration eines Geschichtsbilds, das jegliches Eintreten für den Kommunismus als Sympathiebeweis für Diktatoren und Menschenschinder diffamiert, soll sich das Kräfteparallelogramm dieses für die BRD geschichtsmächtigen Ereignisses grundlegend verändert haben. Der Staatsschützer Kurras schützte nicht die BRD, sondern die DDR, indem er die Westberliner Polizei ausgerechnet in einem Bereich ausforschte, in dem er Zugang zur Arbeit ihrer gegen das MfS gerichteten Spionageabwehr hatte. Sein Schuß auf Benno Ohnesorg könnte, so mutmaßen bislang als seriöse Wissenschaftler und Publizisten bekannte Verschwörungstheoretiker, im Auftrag des MfS erfolgt sein, um die Radikalisierung der Studentenbewegung voranzutreiben. Zwar gibt es nicht einen konkreten Beleg für diese Theorie, zudem wäre sie aufgrund der damit erfolgten Zerstörung eines wichtigen MfS-Agenten auch wenig plausibel, doch diese Variante der Ereignisse vor 42 Jahren paßt einfach zu gut ins Konzept einer vermeintlich nach wie vor von linken Umstürzlern belagerten Republik, als daß man darauf verzichten wollte, sich ihrer zu bedienen und sie zumindest als durch häufige Wiederholung plausibel gemachtes Gerücht in Umlauf zu bringen.

Selbst wenn dem nicht so gewesen sein soll, verlangen nun Personen nach einer Wiederaufnahme des Falls der Ermordung Benno Ohnesorgs, die bisher sehr gut damit leben konnten, daß Kurras niemals für seine Tat belangt wurde. Da sich der vermeintliche Frontkämpfer gegen den Kommunismus als Parteigänger der anderen Seite erwiesen hat, will man das Eisen der Indoktrination schmieden, so lange es noch glüht. Das trifft insbesondere auf die nächsten anderthalb Jahre bis zum 3. Oktober 2010 zu, kann man den Niedergang der DDR doch vor der Kulisse eines seinerseits krisenhaft taumelnden Kapitalismus mit um so blutigeren Farben inszenieren, als die neokonservativ konsolidierte Herrschaft des Kapitals tief ins Fleisch der Betroffenen schneidende Verluste generiert.

Der von den Verfechtern der Theorie, daß Kurras wenn nicht im Auftrag der DDR-Führung, dann auf eigene Faust eine die BRD beschädigende Eskalationsstrategie verfolgte, angestrebte Übertrag auf die damalige Protestbewegung dokumentiert die geistige Enge dieses verschwörungstheoretischen Ansatzes. Indem man von den profunden Gründen und umfassenden Analysen, die die Jugend zur Rebellion gegen Staat und Gesellschaft veranlaßte, absieht und statt dessen auf die symbolpolitische Ebene grober Schwarz-Weiß-Demagogie abhebt, okkupiert man das damalige Geschehen für die Zwecke eines Antikommunismus, der die neue Linke der 68er-Generation in einen zwingenden Zusammenhang mit der DDR bringt. Dies entspricht zwar der ausschließlich destruktiv gemeinten Identifikation dieses Staates mit kommunistischer Ideologie, hat mit den Zielen und Interessen der damaligen Protestbewegung jedoch eher auf gegenteilige Weise zu tun. Man fühlte sich der DDR nur bedingt verbunden, hätte sie jedoch gegen die kapitalistische Reaktion in Schutz genommen.

Wie stets in der systemapologetischen Geschichtspolitik geht es auch in diesem Fall nicht um die aufklärerische Auseinandersetzung mit den politischen Kämpfen längst vergangener Zeiten, sondern deren projektive Nutzung zur Durchsetzung herrschender Interessen. Einen eigenständigen revolutionären Aufbruch soll es in der BRD nie gegeben haben, lautet der Subtext der wiederholten Versuche, die 68er-Bewegung als von der Stasi unterwandertes Instrument der DDR zu delegitimieren. Damit wird jedes emanzipatorische Interesse, das sich auf die 68er-Bewegung beruft, ad hoc mit dem Ruch eines von sinistren Kräften beherrschten Angriffs auf Freiheit und Demokratie behaftet.

Kurras nimmt in diesem Szenario die Rolle eines bloßen Statisten ein, über den ebensogut, als ihn als einen von langer Hand aufgebauten Überzeugungstäter für einen Perspektivwechsel in der jüngeren BRD-Geschichte zu nutzen, gemutmaßt werden könnte, daß er ein Söldner des Kalten Krieges war, der sich jedem andiente, der ihn gut bezahlte. Dafür spricht unter anderem die Aussage Uwe Soukup, Verfasser eines Buches über den Tod Benno Ohnesorgs, laut dem Kurras, den er persönlich kennengelernt hatte, ein ausgesprochener Waffennarr wäre, und die aus einem Interview mit Kurras zitierte Angabe, daß heutige Polizisten "viel zu selten" von der Schußwaffe Gebrauch machten (Spiegel Online, 26.05.2009).

Die Ermordung Ohnesorgs fand so oder so im Spannungsfeld zwischen staatlicher Gewalt und demokratischem Widerstand statt, sprich Kurras war eben auch als Geheimer Mitarbeiter des MfS ausführendes Organ derjenigen Kräfte, gegen die die Demonstranten am 2. Juni 1967 protestierten. Der angestrengte Versuch, aus seiner Spitzeltätigkeit Profit für die herrschende Staats- und Geschichtsdoktrin zu ziehen, dokumentiert die Abwicklung jeglicher kritischer Reflexion, die sich Staat und Gesellschaft nicht unter der Prämisse des bloßen empirischen Abgleichs der unterstellten Sachzwänge kapitalistischer Herrschaft nähern will.

26. Mai 2009