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PROPAGANDA/1410: Um die Türkei werben, türkische Mitbürger diffamieren ... (SB)



Der ARD-Korrespondent in Istanbul, Ulrich Pick, versichert dem deutschen Publikum heute, daß die sogenannte Integrationsdebatte in der medialen Öffentlichkeit der Türkei so gut wie nicht wahrgenommen werde. Es wäre in Anbetracht des Staatsbesuchs des Bundespräsident Christian Wulff auch wenig förderlich, wenn man dort den Eindruck gewänne, hierzulande würden Türken im allgemeinen und Muslime im besonderen zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Ganz so unbemerkt bleibt der Abgesang auf "Multikulti", mit dem derzeit führende Unionspolitiker das Feindbild orientalischer Sozialkonkurrenz schüren, allerdings am Bosporus nicht. So wird in der Presseschau des Deutschlandfunks (19.10.2020) aus der aktuellen Ausgabe der immerhin drittgrößten türkischen Tageszeitung Hürriyet zum Thema der von Sarrazin ausgelösten Debatte zitiert:

"Die Empörung über dessen Thesen waren reine Augenwischerei. Selbst die Sozialdemokraten vertreten ähnliche Standpunkte wie nun Horst Seehofer. Kurz gesagt, die Diskussionen um die Zuwanderung in Deutschland nehmen allmählich gefährliche Dimensionen an. Man muss feststellen, dass der Geist der 30er Jahre in dem Land noch wach ist."

Gründe dafür, die internationalen Auswirkungen der hierzulande aufbrodelnden Islamfeindlichkeit herunterzuspielen, gibt es gerade im Fall der Türkei mehr als genug. Wie Wulff in seiner Rede vor dem türkischen Parlament betonte, ist die Türkei als NATO-Mitglied ein strategisch wertvoller Aktivposten. Die Beteiligung der türkischen Streitkräfte an der Besetzung Afghanistans, die guten Kontakte zwischen Ankara und Teheran, die zwar beschädigte, aber wiederaufbaufähige Partnerschaft der Türkei mit Israel und die Bedeutung des Landes als Modell für einen säkularen Staat mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung sind von immenser Bedeutung für die hegemonialen Pläne der transatlantischen Kampfgemeinschaft. Auch, aber nicht nur deshalb drängen die USA seit jeher auf einen Beitritt des Landes in die Europäische Union. Der Versuch der Unionsparteien, dies unter Verweis auf eine "privilegierte Partnerschaft" zu verhindern, zeigt, daß man bei einer Vollmitgliedschaft der bevölkerungsreichen Türkei in der EU um das deutsche Gewicht im Europäischen Rat fürchtet.

Die im Rahmen des Werbens um einen nichtständigen und später ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrats beschworenen Weltmachtambitionen Deutschlands lassen sich mit dem Anwachsen der gegen türkischstämmige Bundesbürger gerichteten Fremdenfeindlichkeit kaum in Übereinstimmung bringen. Seit die Türkei unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine vielseitigere Außenpolitik betreibt und ihre Fühler in Richtung Iran und arabische Welt ausstreckt, kann ihre Westbindung nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden. Durchaus zwiespältig dürfte daher auch das Eintreten Wulffs für Israel bei gleichzeitiger Brandmarkung des Iraks als Bedrohung für den regionalen Frieden von den türkischen Eliten aufgenommen werden. Der von ihm befürchtete nuklearen Wettlauf im Nahen und Mittleren Osten wird schließlich in erster Linie von dem engen Verbündeten der Bundesrepublik Israel initiiert, dessen nukleare Abrüstung zu fordern für politische Repräsentanten der Bundesrepublik tabu zu sein scheint.

Wenn sich zu derartigen Positionen islamfeindliche Ressentiments gesellen, dann mag der Bundespräsident noch so viele Pluspunkte bei der türkischen Bevölkerung für seine demonstrative Toleranz gegenüber türkischstämmigen Bundesbürgern und türkischen Zuwanderern verbuchen. Skepsis und Ablehnung gegenüber dem führenden EU-Staat werden absehbar anwachsen, wenn der EU-Beitritt des Landes von weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung ebenso bekämpft wird wie die Migration aus der Türkei nach Westeuropa. Das Insistieren auf die Dominanz einer "christlich-jüdischen" Tradition Europas, die entwicklungsgeschichtlich ohnehin andersherum lauten müßte, wenn sie schon beschworen wird, was in Anbetracht der Vereinnahmung der jüdischen Tradition durch ein Christentum des klerikalen Antijudaismus und ein Deutschland der antisemitischen Judenvernichtung in Opposition zum Islam nichts anderes als ein peinlicher Affront ist, wird, wenn es in der Türkei noch nicht zur Kenntnis genommen wurde, spätestens bei der nächsten Konfrontation zwischen Berlin und Ankara in Rechnung gestellt werden.

Die Bundesregierung kann nicht ernsthaft erwarten, daß sich die Regierung in Ankara in gleicher Weise ihren ökonomischen und geostragischen Interessen unterwirft, wie es der türkischstämmigen Minderheit gegenüber dem Primat der deutschen Leitkultur abverlangt wird. Dieses Mißverhältnis zwischen außenpolitischem Hegemonialstreben und sozialrassistischer Spaltungsstrategie wird den Berliner Machttechnokraten noch einige Kopfschmerzen bereiten. Bis dahin ist Beschwichtigung angesagt, so daß die Bundesbürger nicht merken, daß das Bild des häßlichen Deutschen bald den bekanntesten Exportartikel ihrer nationalistisch restaurierten Republik darstellen wird.

19. Oktober 2010