Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1423: "German Angst" ... was neokonservative Demagogen umtreibt (SB)



Was dem Sozialrassisten das Feindbild des "Gutmenschen" ist, ist dem Atomkraftbefürworter das Stigma der "German Angst". Mit diesem Schlagwort wird gebrandmarkt, wer die Atomkatastrophe in Japan zum Anlaß nimmt, die sofortige oder zumindest baldige Abschaltung aller AKWs nicht nur in Deutschland, sondern überall zu verlangen. Wo der "Gutmensch" naiv und blauäugig sinistren Islamisten in die Falle geht, wenn er gleiches Daseinsrecht für alle fordert, frönt der Atomkraftgegner weltfremder Paranoia, wenn er die Gefahren der nuklearen Energieerzeugung anprangert. Der in internationalen wie deutschen Blättern erhobene Vorwurf, in der Bundesrepublik ignorierten die Menschen die desaströse Lage der japanischen Katastrophenopfer, wenn sie die Abschaltung deutschen Atomkraftwerke forderten, wartet mit einer Moral auf, die sich zwei Wochen nach Erdbeben und Tsunami als so nichtig darstellt wie die Erfolgsmeldungen aus Fukushima im Angesichte der keineswegs gebannten Gefahr einer Kernschmelze.

Während Frankreich, Britannien und die USA innerhalb kürzester Zeit mit erheblichem Aufwand einen Krieg gegen Libyen entfesseln, leben die Katastrophenopfer in Japan nach wie vor in behelfsmäßigen Notunterkünften. Von den Kommentatoren, die gegen den Atomstaat demonstrierenden Menschen Egoismus und Pietätlosigkeit vorwerfen, ist nicht zu vernehmen, daß sie lautstark Hilfsmaßnahmen für Japan fordern. Kritik daran zu üben, daß an kriegerischen Mitteln kein Mangel herrscht, während mit humanitärer Hilfe gegeizt wird, könnte ihnen nicht ferner liegen. Die NATO-Staaten sind nicht einmal bereit, den libyschen Flüchtlingen auf Lampedusa mit einer schnellen Hilfsaktion unter die Arme zu greifen, um so ferner liegt der Gedanke, notleidenden Japanern zu helfen. Der moralische Vorschlaghammer, mit denen auf die deutschen Antiatomdemonstranten eingeprügelt wurde, erweist sich als Luftblase von Maulhelden, denen es einzig darum geht, die zu jedem Preis zu steigernde Produktivität des HighTech-Kapitalismus zu retten.

Es ist kein Zufall, daß diejenigen, die am lautesten mit "German Angst" höhnen, unter den Befürwortern des Libyen-Kriegs besonders zahlreich vertreten sind. Sich über begründete Ängste nach der kaltschnäuzigen Parole "Wo gehobelt wird, fliegen Späne" hinwegzusetzen ist Markenzeichen neokonservativer Herrenmenschen, wobei "Herr" wörtlich zu verstehen ist. Wer Angst empfindet und dies auch mitteilt, muß ein "Weichei" oder "Warmduscher" sein, tönt es aus dem homophoben Subtext von Schreibtischtätern, die ihre rhetorischen Ausfälle im Schutz einer Atom- und Kriegslobby absondern, über deren Eigennutz sie keineswegs Auskunft erteilen. Wo echte Männer in harter Währung für Wirtschaftswachstum sorgen, da sind notorische Bedenkenträger und Maschinenstürmer nicht nur fehl am Platz. Sie stellen sich dem menschlichen Fortschritt in den Weg, natürlich ohne darüber nachzudenken, wem sie die warme Wohnung und den gefüllten Kühlschrank zu verdanken haben, schwadronieren diese Propagandisten, um voller Genugtuung auf die angeblich große Gelassenheit in den USA und Britannien im Umgang mit Atomkraft zu verweisen.

Ihr zugleich beschwichtigender und aggressiver Tonfall läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß die Maxime kapitalistischer Innovationsdynamik im Kern erschüttert ist. In Japan laboriert ein Energiekonzern am atomaren Ernstfall, ohne jemals für die unabsehbare Zahl verstrahlter Opfer geradestehen zu können oder auch nur zu wollen. Millionen Hungernde leiden still vor sich hin, während Nahrungsmittel in großem Stil vernichtet werden und ihr Preis zum Objekt finanzkapitalistischer Wertschöpfung wird. Die NATO-Staaten brechen einen Krieg nach dem andern vom Zaun, um die von ihnen favorisierte Mangelordnung zu sichern. Wer Widerstand gegen die kalte Funktionslogik des sich verwertenden Kapitals leistet, wird ideologischer Verblendung oder gar antisemitischer Umtriebe verdächtigt. Während die repressive und eliminatorische Praxis dieser Verwertungsdoktrin bar jeder moralische Verantwortung ist, wird die antikommunistische und sozialrassistische Predigt im Brustton heiliger Empörung gehalten. Zur Kirche chauvinistischer Erbauung wurden Massenmedien auserkoren, deren Leser für so dumm verkauft werden, daß das Nebeneinander von sozialer Verachtung und menschlichen Werten, von sexistischer Herabwürdigung und bürgerlichem Liebesglück, von eigenem Wohlergehen und massenhaftem Elend nicht einmal den Hauch eines Zweifels aufkommen läßt.

Den Faden der in den 1970er Jahren wurzelnden Anti-AKW-Bewegung anläßlich der aktuellen Katastrophe aufzugreifen ist nach der Devise "Der Feind steht im eigenen Land" so rational, wie das Stigma der "German Angst" mit einer irrationalen Nationalpathologie arbeitet, die den grenzüberschreitenden Charakter des Kampfes gegen den Atomstaat absichtsvoll denunziert. Allen Kernkraftgegnern ist zu verdanken, daß die Bundesrepublik in weit geringerem Maße von Atomstrom abhängig ist als etwa Frankreich, wo ein entsprechender Widerstand zu entwickeln sein wird. Dies gelingt um so besser, als der gesellschaftskritische Charakter dieses Kampfes in den Mittelpunkt gestellt wird. Indem zumindest einige AktivistInnen dieser Bewegung niemals vergessen haben, daß zivile und militärische Nutzung der Atomenergie zwei Seiten einer Vernichtungsgewalt sind, indem sie unbescheiden genug sind, das Problem der Energieerzeugung zur Frage sozialer Lebenswirklichkeit weiterzuentwickeln, stellen sie eine kritische Masse von systemverändernder Kraft dar. Die davon ausgehende Bedrohung ist gemeint, wenn ein Herold des "muskulären Liberalismus" wie der britische Premierminister David Cameron versucht, den Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung und imperialistische Kriege unter massivem Einsatz staatlicher Gewaltmittel zu brechen. Mit dem Stigma "German Angst" eine Gesinnung zu dämonisieren, der noch nicht alles so gleichgültig ist, daß es sich widerstandslos verwerten läßt, läßt Risse im Gefüge systemopportuner Legitimation erkennen, die mit dem Versuch, sie zu verbergen, immer offener zutage treten.

23. März 2011