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PROPAGANDA/1485: Gigants letzte Reise (SB)



Gigants letzte Reise
Zum Abschied von Helmut Schmidt

Nicht nur tausende Hamburger, sondern viele Deutsche überall in der Republik, von denen sich nicht wenige nach eigenen Angaben 500 km und mehr eigens zu diesem Anlaß auf den Weg gemacht hatten, sowie zahlreiche Staatshäuptlinge, politische Zeitgenossen und Weggefährten aus dem In- und Ausland haben gestern, am 23. November, unter großer Anteilnahme in der Hansestadt Abschied genommen von Helmut Schmidt. Der Retter in der Not der Sturmflut von 1962, in der der damalige Polizeisenator Hamburgs zu ungewöhnlichen Mitteln griff und sich über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzte, indem er NATO-Streitkräfte und Teile der Bundeswehr für einen Einsatz im Innern anforderte, um das Leben vieler zu schützen, wie auch die Unerpreßbarkeit des Staates, die er in den Jahren der RAF reklamierte und durchsetzte, auch wenn sie Menschenleben kostete, sind, folgt man den öffentlichen Umfragen, am allerstärksten im Gedächtnis derer geblieben, die ihm jetzt das erweisen wollten, was man - honi soit qui mal y pense - als die letzte Ehre bezeichnet. Dem ehemaligen Verteidigungsminister standen das Wachbataillon der Bundeswehr und Angehörige aller drei Waffengattungen als Begleitung seiner letzten Fahrt zur Seite.

Die Superlative, in denen sich Politiker, Persönlichkeiten des sogenannten öffentlichen Lebens und Medienvertreter bereits zum Tod des Altbundeskanzlers ergingen, der sich selbst über sein Image als überragender Staatsmann und Vorbild eher lustig zu machen pflegte, wie auch jetzt anläßlich des Staatsaktes im Hamburger Michel, reichten von "eine außergewöhnliche Persönlichkeit" (Hans-Dietrich Genscher) über "eine Instanz" (Angela Merkel) bis hin zu "einer Art Weltgewissen" (Henry Kissinger) und stimmen, neben der Achtung vor dem Toten, auch nachdenklich, scheint doch die Sehnsucht nach dem starken Mann in einem starken Staat, dem Retter und Beschützer, die mehr als einmal in die Katastrophe führte, neuerlich an Popularität und Boden zu gewinnen. Auch unter Jugendlichen hatte der alte Mann, der Macher und Bürokrat, zuletzt erstaunlich viele Fans und das sicherlich nicht nur, weil er sich praktizierend über das Rauchverbot im öffentlichen Raum immer wieder und überall erfolgreich hinwegsetzte. Giovanni di Lorenzo, amtierender Chefredakteur der ZEIT, nannte ihn eine Vater- und Großvaterfigur, einen "letzten Fixpunkt in einer Welt [...], die aus den Fugen geraten ist". [1]

Helmut Schmidt hat nach eigenem Bekunden das Unrecht des 3. Reichs erst sehr spät, nämlich 1944 und mithin im sattsamen Alter von 25 Jahren erkannt: "Jedoch habe ich danach gleichwohl als kämpfender Soldat weiterhin meine Befehle und Pflichten befolgt - so wie Millionen anderer Soldaten auch." [2]

Daß der Machtmensch Schmidt, dem Visionen ein Greuel und Ökologie und Dritte Welt allemal weniger wert waren als die Ökonomie, auch ein Schöngeist war, der Musik liebte und selbst Klavier spielte, der lange Jahre als Mitherausgeber einer Zeitung von intellektueller Ansprüchlichkeit vorstand und sich selbst schreibend publizierte, ist kein Widerspruch, dient doch das eine dem anderen nicht selten als selbst aufgelegtes Feigenblatt der Entlastung und Erläuterung.

Der regierende Bürgermeister von Hamburg Olaf Scholz bekannte in seiner Trauerrede, man habe "einen Giganten verloren". Und die Kollegen der ZEIT schrieben auf ihrem Trauerkranz:"Wer soll uns jetzt die Welt erklären"?

Es könnte einen Menschen grausen vor so viel Anti-Aufklärung!


Anmerkungen:

[1] http://www.zeit.de/politik/2015-11/helmut-schmidt-nachruf-politiker

[2] https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/kulturforum472.pdf

24. November 2015


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