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RAUB/0863: Neuer Aufbruch für das Subproletariat ... (SB)



Aus der Finanzkrise ist auch in der Bundesrepublik eine Wirtschaftskrise geworden. Die extrem exportorientierte deutsche Industrie erlitt einen Einbruch ihrer Ausfuhren im November um 10,6 Prozent gegenüber dem Vormonat Oktober, gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat sogar um 11,8 Prozent. Dabei hatten Wirtschaftsanalysten lediglich ein Minus von 2,8 Prozent prognostiziert. Im Dezember mußte die deutsche Autoindustrie sogar einen Rückgang ihrer Exporte um 22 Prozent hinnehmen, während die Bestellungen aus dem Ausland um 32 Prozent zurückgingen. Im Inland wurden 2008 21 Prozent weniger Autos bestellt als im Vorjahr, während der Absatz bereits auf den schwächsten Wert seit 1991 fiel.

Diese Kerndaten aus hochproduktiven Bereichen der deutschen Industrie belegen, daß sich die lange vertretene Behauptung, das Geschehen am Finanzmarkt wirke sich kaum auf die sogenannte Realwirtschaft aus, in ihrem irreführenden Charakter bestätigt hat. Es wäre allerdings auch ein Wunder gewesen, wenn die Bundesrepublik gerade mit ihrer extremen Ausrichtung auf den EU- und Weltmarkt als Insel der Seligen von einer Systemkrise verschont geblieben wäre, die mit den USA und Japan, wo die Industrieproduktion noch stärker zurückgeht als in Deutschland, zwei Zentren der Weltwirtschaft schwer getroffen hat. Was die Bundesregierung unter dem Titel der sozialen Marktwirtschaft als gegen krisenhafte Entwicklungen gefeites Modell anpreist, hat von einer zu Lasten der EU-europäischen Nachbarn wie der eigenen Erwerbstätigen gehenden Politik der Lohnkostensenkung gelebt und steht nun vor dem Dilemma eines Niedergangs, der erst recht auf dem Rücken der Erwerbslosen und Niedriglohnempfänger ausgetragen wird.

Mit den nun wieder steigenden Arbeitslosenzahlen und der absehbaren Verschärfung der Situation der Lohnarbeiter aufgrund der krisenhaften Entwicklung nicht nur in der Güterproduktion, sondern auch im Transportsektor und folgerichtig im Dienstleistungsbereich wird die Zahl der Armen in der Bundesrepublik weiter ansteigen. Knapp fünf Millionen Menschen gehen einer geringfügig entlohnten Beschäftigung nach, das heißt sie verdienen kaum mehr als die fünf Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld II, die desto weniger Aussicht darauf haben, ihrem desolaten Schicksal noch einmal zu entkommen.

Niedriglohnjobber und erwerbsfähige Hilfsbedürftige wurden auf finanzielle Diät gesetzt, weil sie damit motiviert werden sollten, sich zu verbessern oder überhaupt einen Job zu finden. Diese Lesart des "Förderns und Forderns" war seit jeher von der aggressiven Stigmatisierung der Betroffenen bestimmt, selbst schuld an ihrem Elend zu sein, weil sie sich nicht genug Mühe gegeben hätten. Nun, da sich die Ungedecktheit der akkumulierten Geldwerte nicht mehr über Geschäfte am Finanzmarkt und die Kapitalisierung aller Belange der Daseinsvorsorge kompensieren läßt und die über Jahre hinausgezögerte Systemkrise vollends zuschlägt, erweist sich die Bezichtigung der Leistungsempfänger als das, was sie seit jeher war - ein zweckdienliches Konstrukt zur Sicherung herrschender Interessen.

Indem man den einzelnen Bürger unter dem Diktat des Arbeitsgebots darauf zurichtet, die Gründe für seine Misere nicht gesellschaftlich und systemisch zu verorten, und dem Kapital auf diese Weise eine billige und willige Manövriermasse zur Verfügung stellt, hat man den Menschen zu einem bereits für sein bloßes Leben rechenschaftspflichtiges Subjekt der Wirtschaft gemacht und ihm jegliche politische Streitbarkeit ausgetrieben. Nun, da sich zeigt, daß sich die Sachwalter des Kapitalismus keineswegs verantwortlich fühlen, sondern die Fortsetzung ihres Regimes mit dem ultimativen Sachzwang eines alternativlosen Krisenmanagements sichern, entpuppen sich die angeblichen Maßnahmen zum Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt als bloßes System der kontrollierten Mangelverwaltung.

Gefördert wird immer weniger, gefordert dafür immer mehr, und zwar Verzicht und Unterwerfung. Mit den Fesseln der ökonomischen Not und der staatlichen Repression gehalten soll das Subproletariat auch in Zukunft darauf verzichten, seine Stimme zu erheben und sich gegen die Herrschaft der Funktions- und Kapitalmachteliten aufzulehnen. Angesichts der nicht mehr zu leugnenden Irreführung, mit der es von angeblich sozial denkenden Politikern und angeblich aufklärerischen Medienvertretern diffamiert und ausgegrenzt wurde, wäre es an der Zeit für einen neuen Aufbruch. Die von diesem System in den Limbus der Entbehrung, der Bittstellerexistenz und gesellschaftlichen Isolation geschickten Millionen könnten sich von den politischen Repräsentanten, professionellen Sozialhelfern und neokonservativen Sozialingenieuren emanzipieren, um sich als Subjekt einer gesellschaftlichen Veränderung zu konstituieren, das die Systemfrage an den Anfang seines Kampfes stellt, um nicht in einer weiteren Runde reformistischer Irreführung der eigenen Handlungsfähigkeit beraubt zu werden.

8. Januar 2009