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RAUB/0877: Heiner Geißlers Probleme mit Attac-Positionen (SB)



Auch unter den zahlreichen Mitgliedern von Attac Deutschland bleiben Radikalisierungstendenzen nicht aus. Wo man Kapitalismuskritik noch vor wenigen Monaten hinter der Anprangerung des Neoliberalismus oder allgemeiner Globalisierungskritik verbarg, mehren sich die Stimmen, die das Übel beim Namen nennen und über sozialistische Elemente nachdenken. Das fördert Absetzbewegungen unter gestandenen Mitgliedern der Organisation, wie etwa die Verlagerung seines politischen Tätigkeitsschwerpunkts zu den Bündnisgrünen zeigt, die der prominente Mitbegründer der deutschen Sektion von Attac, Sven Giegold, vollzog.

Was dieser in weiser Voraussicht ob einer sich verschärfenden Diskussion um die gesellschaftspolitische Position der Organisation vorwegnahm, könnte auch dem weit prominenteren Attac-Mitglied Heiner Geißler bevorstehen. Zwar hat der ehemalige Spitzenpolitiker nach wie vor seine politische Heimat in der CDU, dort scheint er jedoch als sonderlicher Wanderer zwischen den Welten zu gelten. Bei Attac wiederum tat er sich jüngst auf dem Kongreß "Kapitalismus am Ende?" in Berlin als Verteidiger der sozialen Marktwirtschaft hervor, indem er behauptete, diese sei nicht identisch mit dem Kapitalismus.

Kein Wunder also, daß Geißler auch Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen parteiinterne Kritik in Schutz nimmt, dient ihr der Verweis auf die soziale Marktwirtschaft doch ebenfalls als Feigenblatt, hinter dem sich kapitalistische Verwertungsverhältnisse und die Herrschaft der von ihnen profitierenden Eliten aufrechterhalten lassen. Der von Unionspolitikern gerne vorgenommene Rückgriff auf Ludwig Erhard als Vater der sozialen Marktwirtschaft sollte eigentlich hinlänglich darüber aufklären, daß es sich dabei um einen in der Wolle gefärbten Wirtschaftsliberalismus handelt, dessen sozialer Anspruch dem unterstellten Funktionieren marktwirtschaftlicher Prinzipien nachgeordnet ist. Der von Erhard propagierte Ordoliberalismus ist eine auf Privateigentum, Wettbewerb und Geldwertstabilität festgelegte Wirtschaftsdoktrin, die kapitalistische Klassenherrschaft vielleicht besser zu legitimieren vermag als ausgesprochen marktradikale Ansätze, diesen jedoch am nächsten steht.

Ob sich das politische Profil von Attac künftig schärfen oder die Organisation an Bedeutung verlieren wird, dürfte auch von ihrer Haltung zur Kriegführung der NATO und zur Militarisierung der EU abhängen. Heiner Geißler jedenfalls ist der von Mitgliedern Attacs geübte Antimilitarismus suspekt, wie sein Leserbrief an die junge Welt vom 11. März zu erkennen gibt. Dort distanziert er sich "nachdrücklich" von der Beteiligung Attacs an den Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel Anfang April. Für Geißler ist die Militärallianz "die einzige Organisation, die sich gegen die Taliban und Al-Qaida zur Wehr setzt" und damit auch Frauenrechte in Afghanistan durchsetze. Er sei "bei ATTAC eingetreten, um mitzuwirken an der Durchsetzung der Menschenrechte in Ökonomie und Politik auf der ganzen Welt, aber nicht, um indirekt durch solche Proteste frauenfeindliche Talibanfanatiker zu unterstützen".

Die naheliegende Frage, inwiefern sich Menschenrechte überhaupt mit Bomben und Granaten durchsetzen lassen, ist nicht zu lösen von der Frage nach der materiellen Bemittelung der Menschen, die in Afghanistan zwar für Kriegsprofiteure, nicht jedoch die breite Bevölkerung und schon gar nicht für Frauen und Kinder besser wird. Geißler verschließt mit seinem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft die Augen vor der imperialistischen Basis der Reichtumsanhäufung in den Ländern des Westens, er will sich keineswegs eingestehen, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen kriegerischer Expansion und Sicherung der eigenen ökonomischen Stärke gibt. Wenn die Attac-Mitglieder den Unionspolitker weiterhin als Aushängeschild ihrer Seriosität verwenden, könnte der Aufbruch zu radikaler Gesellschaftskritik beendet sein, bevor er überhaupt losgegangen ist.

19. März 2009