Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0920: Gebrauchte Kartons mitgenommen - fristlose Kündigung (SB)



Im nächsten Jahr kommen schwere Zeiten auf uns zu, kündigt die Regierung schon mal vorsorglich die Folgen ihres eigenen wirtschaftsfreundlichen Kurses an. Als wenn die Zeiten nicht schon hart genug wären. Wieder wurde ein langjähriger Mitarbeiter wegen einer Bagatelle - von einem Delikt möchte man in diesem Zusammenhang gar erst nicht sprechen - fristlos entlassen, wieder schützte die deutsche Justitia Blindheit gegenüber der Not der Arbeiter und Angestellten vor und gab dem Unternehmen recht.

Ein 50jähriger hatte für den Umzug seiner Tochter sechs gebrauchte Kartons von seinem Arbeitsplatz im baden-württembergischen Trossingen mitgenommen. Dabei war der "Täter" von einer Überwachungskamera gefilmt worden, was zu der Vermutung Anlaß gibt, daß der Mann gar nicht damit gerechnet hatte, ihm könnte dies als Diebstahl ausgelegt werden. Womöglich wäre es ihm sogar ein leichtes gewesen, die Kartons außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera, über deren Existenz er sich im klaren gewesen sein dürfte, einzupacken. Somit ist auch seine Erklärung vor Gericht, daß er meinte, die Kartons würden nicht mehr gebraucht, glaubwürdig.

Der Mann hat gegen seine fristlose Entlassung geklagt und verloren. Das Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen gab dem Arbeitgeber recht und erklärte, daß der Wert des gestohlenen Gegenstands nicht entscheidend sei. Beide Seiten haben sich laut dem Südwestrundfunk (SWR) darauf geeinigt, daß die Kündigung bestehen bleibt und der Mann eine Abfindung in Höhe von 6.000 Euro erhält - nach 27 Jahren im Betrieb!

In den letzten Jahren haben deutsche Gerichte in mehreren ähnlich gelagerten Klagefällen der Arbeitergeberseite Recht zugesprochen und die Kündigung beispielsweise wegen der Einlösung eines gefundenen Rabattmarkenhefts (Unterschlagung!), des Verzehrs einer Frikadelle, der Mitnahme von sechs übrig gebliebener Maultaschen oder eines Brotaufstrichs bestätigt. Anscheinend nutzen die Unternehmen an sich harmlose Vorfälle zum für sie billigen Personalabbau. Wenn es dann auch noch gewerkschaftlich aktive Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter trifft, kommt die Kündigung den Unternehmen offensichtlich besonders gelegen.

Einmal angenommen, die Arbeitgeber betrachteten das Vertrauensverhältnis tatsächlich als unreparabel zerstört, wie sie üblicherweise vor Gericht reklamieren, um einen Rauswurf zu rechtfertigen. Falls das zutrifft, muß man sich fragen, was die Arbeitgeber unter Vertrauen verstehen. Wenn sie ihren Angestellten nicht einmal eine Wurst gönnen oder gebrauchte Umzugskartons überlassen wollen, dürfte das Verhältnis bis dahin bereits reichlich unterkühlt gewesen sein - zumindest seitens des Unternehmers.

Die Entlassungen wegen mutmaßlicher Bagatellvergehen erregen die Öffentlichkeit nur geringfügig. Selten führen sie in der Bevölkerung zu empörten Reaktionen. Politiker meinen in den Gerichtsurteilen die Einhaltung geltender Rechtsnormen zu erkennen, wohingegen rechtskräftig verurteilte Steuerbetrüger wie der ehemalige Post-Chef Klaus Zumwinkel, die Millionen unterschlagen - sprich: auf die Seite schaffen - mit einer Bewährungs- und Geldstrafe davonkommen. Während aber der Manager weich fällt, bedeutet die Entlassung für einen älteren Arbeiter, eine Kassiererin oder Sekretärin häufig über kurz oder lang deren unaufhaltsamen Abstieg in die Hartz-IV-Verarmungszone.

Mit dem alleinigen Fokus auf einzelne Entlassungen, so tragisch sie auch für die Betroffenen selbst sind, wird davon abgelenkt, daß in der hiesigen Gesellschaft mit ihrer hohen Produktivität und dem hohen Technisierungsgrad der Industrie gar nicht für alle Menschen Arbeit vorhanden ist. Eigentlich könnte die Gesellschaft Arbeitsformen entwickeln, die das uralte Versprechen des Fortschritts, nämlich mit Hilfe der Technik Menschen von der Arbeit zu entlasten, so daß sie mehr Freizeit für interessantere Dinge im Leben haben, einlösen. Aber das geht selbstverständlich nicht, solange das Akkumulationsregime aufrechterhalten wird, das wenige auf Kosten der Mehrheit begünstigt.

Millionen Bundesbürger beziehen Alg II und werden genötigt, den Noch-nicht-Alg II-Beziehern Arbeitsplätze wegzunehmen und sich für ein Euro die Stunde fremdnützigen Interessen zu überantworten. Befriedung durch Beschäftigung. Letztausbeutung am gesellschaftlichen Sockel, ohne den eine Pyramide nicht existieren kann. Wann endlich erkennen diejenigen, denen wegen ein paar gebrauchter Kartons von ihren Chefs ein schmählicher Fußtritt versetzt wird, daß umgekehrt das Vertrauensverhältnis schon lange zerstört ist, und ziehen die gebotene Konsequenz daraus: Entlassung des Establishments. Unwiderruflich. Denn Pyramiden sind dazu da, geschliffen zu werden.

22. Oktober 2009