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RAUB/0966: Millenniumsgipfel - Inszenierung der hohlen Worte (SB)



Große Oper in New York. Rund 125 Staats- und Regierungschefs stimmen in die Arie ein, daß Bettelkinder ihr Herz erweicht haben und sie ihnen helfen wollen. Das Stück ist wohl vertraut, es wird seit vielen Jahren auf zahlreichen Bühnen mit unterschiedlichen Besetzungen sowie der Zeit und den Umständen angepaßten Libretti aufgeführt. Die aktuelle Inszenierung des Dramaturgen Ban Ki Moon wirkt allerdings wenig spektakulär. Das haben andere vor ihm schon besser gebracht. Das Schaustück wird von den Protagonisten etwas unambitioniert vorgetragen, als wenn sie Opfer ihrer Routine geworden wären. In früheren Aufführungen wurde das Publikum noch mitgerissen. Da haben die politischen Entscheidungsträger einen enormen Spannungsbogen geschlagen, angefangen mit ihren Wehklagen über die Not in der Welt bis zur hochtrabenden Ankündigung, wie man der grausamen Schicksalsgöttin, die Hunger und Not über das Menschenvolk ausgegossen hat, entgegenzutreten gedenke.

Nein, nicht einmal unterhaltsam ist das Stück, das beim New Yorker Millenniumsgipfel aufgeführt wird. Das Theater hat einen bitteren Hintergrund, und mit "Schicksal" hat es nicht das geringste zu tun. Rund eine Milliarde Menschen leidet täglich Hunger. Jedes Jahr sterben zig Millionen Menschen, weil ihnen der Zugang zu Nahrung verwehrt wird - sei es, daß sie zu "illegalen" Flüchtlingen erklärt und in Lager gesteckt werden, sei es, daß ihren Herkunftsländern eine Wirtschaftsordnung aufgenötigt wird, von der die führenden Industrienationen sowie eine kleine einheimische Oberschicht profitieren.

Nachdem im vergangenen Jahrhundert immer wieder ausgewiesene Ziele zur Bekämpfung von Armut und Hunger gebrochen wurden, sollten im Jahr 2000 acht Millenniumsziele verabschiedet werden, die vorsahen, daß bis zum Jahr 2015 die Not in der Welt nicht beseitigt, aber zumindest halbiert wird. Die Frist ist zu zwei Drittel abgelaufen, und es zeichnet sich ab, daß nicht einmal dieses halbgare Ziel erreicht wird. Eigentlich hätte bis 2015 die Zahl der Hungernden auf rund 400 Millionen gesenkt werden müssen, statt dessen ist sie noch gestiegen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärt stoisch, daß die Millenniumsziele trotz aller Hindernisse noch zu erreichen sind. Aus den Reihen des Gipfels in New York ist die Erklärung zu vernehmen, daß die Finanz- und Wirtschaftskrise für die Probleme verantwortlich ist. Infam! Denn erstens zeichneten sich die Tendenzen, daß die Millenniumsziele nicht eingehalten werden, bereits vor der Krise ab und zweitens, viel wichtiger noch, entstammen jene Krise und der chronische Hunger der gleichen Quelle. Von einer Welt, in der Arbeit so organisiert ist, daß sie ausbeuterischen Zwecken dient und ein Abgreifen des Mehrwerts aus der Lohnarbeit gestattet, ist nichts anderes zu erwarten, als daß Menschen dem Hungertod überantwortet werden. Denn die Elenden und Dahingeworfenen dieser Welt dienen als stete Mahnung an alle anderen, sich wohlgefällig zu verhalten, damit sie nicht das gleiche "Schicksal" ereile.

Aus diesem Grund werden jene gesellschaftlichen Kräfte, die sich in New York zum Chor der Hilfsbereiten eingefunden haben, den Mangel weiterhin verwalten, um ihn in Stellung zu bringen, anstatt ihn zu beheben. Insofern zielen auch die Adressierungsbemühungen seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen daneben, wenn vom Verteilen finanzieller Betthupferln und anderen Maßnahmen ernsthaft eine grundlegende Umkehrung des vorherrschenden Raubverhältnisses erwartet wird. Auch daß die Europäische Union eine Milliarde Euro an zusätzlicher Hilfe versprochen hat, wird an der Lage der Bedürftigen nichts ändern. Es ist nicht mehr als die Einmalzahlung von einem Euro für jeden der 1,4 Milliarden Armen in der Welt, bzw. eine Schokolade für jeden, das war's dann schon. Zudem hatte die EU das Geld längst zugesagt. Es stammt teils aus den bislang nicht verwendeten Mitteln des Entwicklungsbudgets der Europäischen Union und teils aus dem Schuldenerlaß. Wie generös! Und Bundeskanzlerin Merkel mahnt bei den Entwicklungsländern eine bessere Regierungsführung an, während ihr Entwicklungsminister Niebel die Hilfszusagen mehr denn je an geopolitischen Interessen der Bundesregierung bindet. Aber große Oper in New York.

21. September 2010