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RAUB/0971: "Frage der nationalen Sicherheit" - Cholera erreicht Port-au-Prince (SB)



Das karibische Armenhaus Haiti darf als Musterbeispiel unablässiger Abstrafung, Ausbeutung und Zurichtung durch koloniale und imperialistische Mächte gelten, die ihm die Sklavenrevolte, den Sieg über das napoleonische Expeditionsheer und die Gründung der ersten schwarzen Republik im Jahr 1804 nie verziehen haben. Immense Reparationszahlungen an die französische Krone und die Blockade unter Führung der Vereinigten Staaten zermalmten das Freiheitsstreben und bereiteten einer Selbstzerfleischung in inneren Machtkämpfen den Weg. Antikolonialer und antiimperialistischer Kampf ziehen vernichtende Sanktionen nach sich, lautete die Botschaft an die Haitianer und alle Welt, mit der die europäische und in ihrem Gefolge die US-amerikanische Hegemonialmacht ein rachsüchtiges Zeichen setzten.

Was folgte, waren zwei Jahrhunderte fortgesetzter Intervention, die sich militärischer, politischer und ökonomischer Mittel bediente, um das Land dauerhaft in Ketten zu halten und die favorisierten Herrschaftsverhältnisse sicherzustellen. Phasen US-amerikanischen Besatzungsregimes wechselten sich mit von Washington unterstützten Diktaturen ab, von denen die dreißig Jahre währende Schreckensherrschaft der Duvaliers die wohl grausamste war. Durchweg sorgte eine kleine, aber unerhört reiche Elite von Profiteuren und Kollaborateuren dafür, jedes Aufbegehren im Keim zu ersticken. Aufoktroyierte ökonomische Zwänge wie der Abbau der Schutzzölle gestatteten es der hochsubventionierten US-Agrarindustrie, das Land mit billigem Reis zu überschwemmen und somit die einheimische Landwirtschaft zu ruinieren.

Als Präsident Jean-Bertrand Aristide sich weigerte, die ihm zugedachte Rolle der willfährigen Marionette zu spielen, blockierte die US-Regierung Hilfsgelder und Kredite der Interamerikanischen Entwicklungsbank, um den geplanten Ausbau der Infrastruktur und jegliche Sozialprogramme zu torpedieren. Am 28. Februar 2004 wurde Aristide schließlich durch einen von Washington unterstützten Putsch gestürzt. Binnen Stunden rückten US-Marines ein, die erst wieder abzogen, als die Dauerpräsenz von UN-Truppen den Fortbestand des Besatzungsregimes garantierte.

Die Vereinten Nationen haben zwischen 2004 und 2009 rund 5 Milliarden Dollar für ihre sogenannte Friedensmission in Haiti aufgewendet, was ein Schlaglicht darauf wirft, in welchem Ausmaß administrative Apparate zu Lasten tatsächlicher Hilfeleistung subventioniert werden. Vorzurechnen, wie viele hungernde Haitianer von diesem Betrag satt geworden wären, und einzuwenden, der regulative Überaufwand habe reichlich sauere Früchte getragen, ist müßig. Investiert wurde in die Zerschlagung des Staates, die nachfolgenden Verwaltung der chaotischen Verhältnisse und die Sanktionierung aller Anzeichen organisierten Widerstands.

Bei dem verheerenden Erdbeben vom 12. Januar waren rund 230.000 Menschen ums Leben gekommen, 1,5 Millionen Haitianer obdachlos und wesentliche Teile der Infrastruktur des Landes zerstört worden. Dies bot die Gelegenheit, Armut und Reichtum, Unterdrückung und Ausbeutung vollständig auszublenden und mit dem Postulat zu hausieren, vor der Naturkatastrophe dieses Ausmaßes seien alle Menschen gleich. Mehr denn je verwandelt sich Haiti seither in ein Labor des Krisenmanagements in Armutsregionen, in dem die Zuteilungen unter die Schwelle des Überlebens gesenkt und die Menschen mit vagen Hilfsversprechen in den Zustand dumpfer Resignation gedrängt werden. De facto ist das Land ein Protektorat, in dem im Namen humanitärer Hilfe die Administration notleidender Menschen im Feldversuch erprobt wird.

Die internationale Staatengemeinschaft - letzteres offensichtlich ein Widerspruch in sich - hatte bei einer Geberkonferenz im März Haiti vollmundig 9,9 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Davon sind bislang nur verschwindende zwei Prozent angekommen, was auf besonders krasse Weise dokumentiert, in welchem Mißverhältnis finanzielle Zusagen und konkrete Unterstützung stehen. Nach wie vor leben rund 1,5 Millionen Menschen unter notdürftigsten Verhältnissen in Lagern, wo sie extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt sind. Die meisten der etwa 1.300 provisorischen Lager verfügten über unzureichenden oder gar keinen Zugang zu Strom, Wasser und Abflußsystem.

Unmittelbar nach dem Erdbeben im Januar hatten Gesundheitsexperten vor dem Ausbruch von Seuchen gewarnt, da die Infrastruktur weitgehend zerstört war und sich zahllose Menschen auf engstem Raum drängten. Dennoch gab man sich überrascht, als eine Choleraepidemie grassierte, und verwies darauf, daß diese Krankheit auf der Karibikinsel praktisch unbekannt war, da sie dort seit Generationen als ausgerottet galt. Der Verdacht, nepalesische UNO-Soldaten hätten die Seuche eingeschleppt, wurde von den Vereinten Nationen vehement bestritten und konnte nicht zweifelsfrei belegt werden. Allerdings befindet sich der Stützpunkt dieser Blauhelme oberhalb des Flusses Meille, der in den Artibonite mündet, welcher wiederum als Hauptinfektionsquelle der Cholera galt. Berücksichtigt man, daß derzeit auch in Nepal die Cholera grassiert, fällt es schwer, die Entsendung nepalesischer Soldaten in das haitianische Katastrophengebiet lediglich als unverzeihlichen Fehler einzustufen.

Die anfängliche Haltung der Regierung, wonach die Epidemie unter Kontrolle sei, wurde umgehend von der Weltgesundheitsorganisation wie auch zahlreichen Hilfsorganisationen dementiert. Den Experten war klar, daß ein Überspringen des Virus auf die Lager der Erdbebenopfer in Port-au-Prince unbedingt verhindert werden mußte. Wenngleich infizierte Patienten mit vergleichsweise einfachen und billigen Mitteln erfolgreich behandelt werden können, beträgt die Morbiditätsrate nach Auftreten der Symptome bei fehlender Behandlung bis zu 50 Prozent. Man bediente sich einer koordinierten Informationskampagne, um die Bevölkerung, die Regierung und lokale Journalisten zu sensibilisieren und Hygienemaßnahmen im Bereich der sanitären Einrichtungen und der Nahrungsaufnahme anzumahnen. Indessen scheiterte der Rat, nur gereinigtes Wasser zu trinken und sich die Hände mit Seife zu waschen, für viele Menschen in den Massenlagern schon daran, daß sie weder sauberes Wasser noch Seife haben.

Die Cholera gilt als ausgesprochene Armutskrankheit, die sich unter Verhältnissen wie jenen in Haiti epidemisch auszubreiten droht. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden sind inzwischen mehr als 640 Menschen an der Krankheit gestorben. Die meisten Opfer gibt es bislang im Departement Artibonite, wo die Krankheit am 19. Oktober ausgebrochen war. Während in den nördlichen Landesteilen fast 10.000 Menschen erkrankt sind, sollen im Süden bislang nur vereinzelte Fälle aufgetreten sein. Nun hat die Epidemie auch die Hauptstadt Port-au-Prince erreicht, in der bereits weit über 100 Fälle bestätigt wurden, und dort ein erstes Todesopfer gefordert. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen meldete, sie allein habe in den vergangenen Tagen etwa 200 Patienten mit ernsten Beschwerden behandelt. Da die Cholera hoch ansteckend ist und sich vor allem über Wasser und Nahrung verbreitet, sei Port-au-Prince "reif für eine zügige Verbreitung" der Cholera, die innerhalb kürzester Zeit zum Tod führen kann. (www.faz.net 11.11.10)

Zur Verschärfung der Lage trug auch der Hurrikan Tomas bei, dem nach Regierungsangaben 21 Menschen zum Opfer fielen. Die Regenfälle, die der Wirbelsturm mit sich brachte, verursachten Überschwemmungen und begünstigen die Ausbreitung der Cholera ungemein, die in den Flüssen Fuß gefaßt hat. Im weiteren Verlauf der Hurrikan-Saison erwarten Hilfsorganisationen eine rasante Ausbreitung der Krankheit. Man müsse sich mit Hilfsgütern und Personal auf eine riesige Welle neuer Fälle vorbereiten. Wie das bewerkstelligt werden soll, ist jedoch völlig schleierhaft, da die Krankheit schon unter den günstigeren Verhältnissen in anderen Landesteilen nicht eingedämmt werden konnte. Inzwischen gehen Experten von einer lang andauernden Epidemie aus, bei der sich Zehntausende Menschen mit der Krankheit infizieren. (www.zeit.de 11.11.10)

Hatte die Regierung zunächst von "vereinzelten Fällen" in der Hauptstadt gesprochen, so ist die Zahl der Infektionen in den vergangenen Tagen regelrecht explodiert. Daher erklärte der Generaldirektor des haitianischen Gesundheitsministeriums, Gabriel Thimoté, nun, die Seuche gefährde alle zehn Millionen Bewohner des Inselstaats. Man betrachte die Epidemie fortan als eine "Frage der nationalen Sicherheit". Während die Sorge, die Cholera könne in Kürze unter der gesamten Bevölkerung Haitis grassieren, keinesfalls aus der Luft gegriffen ist, bleibt offen, was mit dem Verweis auf die nationale Sicherheit gemeint sein mag. Handelt es sich um eine inhaltsleere Phrase aus dem Munde eines ohnmächtigen Bürokraten oder dient sich Thimoté dem Vorbild der Hegemonialmacht an?

Washington hatte nach dem Erdbeben Truppen entsandt, um die Sicherheitslage unter Kontrolle zu bringen, also Flüchtlingsbewegungen in Richtung USA zu verhindern und mögliche Aufstände niederzuschlagen. Internationale Hilfsorganisationen kritisierten diese Intervention, da sie die Katastrophenhilfe blockierte und somit für Tausende weitere Todesopfer verantwortlich war. Es drängt sich jedoch der Verdacht auf, daß sich die Summe der unablässigen Versäumnisse, Fehleinschätzungen und Unzulänglichkeiten mit der verheerenden Wucht der Naturkatastrophen, angesichts derer humanitäre Hilfe hoffnungslos überfordert sei, nicht hinreichend erklären läßt. Was als extremes Schicksal Haitis kolportiert wird, greift längst in zahlreichen anderen Weltregionen, die von den internationalen Medien weitgehend ausgeblendet werden. Dem Namen nach humanitäres Engagement, exekutiert man die Administration verelendeter Massen unter den Bedingungen der Mangelversorgung und weitgehend unterlassenen Hilfeleistung, um die Prävention der Hungerrevolte zu perfektionieren.

11. November 2010