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RAUB/0981: Katastrophenregulation - Zwangsumsiedlungen in Brasilien (SB)



Als in den brasilianischen Bundesstaaten Rio de Janeiro und Sao Paulo binnen eines Tages so viel Regen fiel, wie normalerweise in einem Monat, verwandelten sich steile Abhänge in Schlammlawinen, die zahlreiche Bewohner der Favelas in den Tod rissen und viele weitere obdachlos machten. Seit Einsetzen dieser ungewöhnlich heftigen Niederschläge im Januar sind offiziellen Angaben zufolge mindestens 900 Menschen auf diese Weise gestorben, während rund 400 weitere als vermißt gelten. Von der Naturkatastrophe heimgesucht, drohen die Bewohner der Elendsquartiere überdies in die Mühlen einer Adminstration zu geraten, die sich dieses verheerenden Unglücksfalls bedient, um die seit langem angestrebte Vertreibung und Zwangsumsiedlung in Angriff zu nehmen.

Katastrophenhilfe tritt mit ihrer regulativen Kernfunktion der Elendsverwaltung auf den Plan, das angesichts existentieller Vernichtung nie auszuschließende Aufbegehren einzudämmen, die in extremer Zuspitzung zur Wirkung kommenden gesellschaftlichen Widersprüche auszublenden und die positiv konnotierte Unterstützung in einer außergewöhnlich erschütternden Situation zur Verschleierung und Befestigung der permanenten Notlage minimalster Lebensverhältnisse zu nutzen.

Wie kaum noch bestritten wird, treten im Gefolge des Klimawandels extreme Wetterphänomene gehäuft auf. Ebenso darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Favelas vielerorts in Hanglagen angesiedelt sind, die im Falle starker Regenfälle als besonders gefährdet gelten. Daß die dort lebenden Menschen anderswo sicherer wohnen könnten, ist eine zutreffende, aber inhaltsleere Schlußfolgerung, solange die gesellschaftlichen Ursachen der Elendsquartiere, mehr noch aber Ziele und Verfahrensweisen einer möglichen Umsiedlung nicht einbezogen werden. Wer die Schlammlawinen überlebt hat, muß nun fürchten, seiner letzten verblieben Habe und sozialen Bezüge beraubt und an einen ihm fremden Ort verfrachtet zu werden.

Daß dies kein Plädoyer dafür sein kann, die Favelabewohner ihrem Schicksal in gefährdeten Zonen zu überlassen, liegt auf der Hand. Die plakative Forderung, sie müßten vernünftigerweise und notfalls auch gegen ihren Willen zum Verlassen der betreffenden Gebiete veranlaßt werden, geht jedoch leichterdings die Kumpanei mit administrativer Willkür ein, die eben dies seit Jahren vergeblich versucht hat, nun aber mit dem Schub der Katastrophe forciert. Schon hat man behördlicherseits begonnen, die Einhaltung von Bebauungsvorschriften strenger zu kontrollieren und Bewohner der Favelas zu Umsiedlung zu drängen. In beiden betroffenen Bundesstaaten wurden mehrere hundert Behausungen niedergerissen, die in besonders gefährdeten Bereichen standen, welche man für unbewohnbar erklärt. Um die Menschen unter Druck zu setzen, kappte man zuvor die mitunter vorhandenen Versorgungsleitungen und drohte eine gewaltsame Räumung an, sollten sie sich weigern, "freiwillig" zu gehen. Unter dem Eindruck der Naturkatastrophe war die Bereitschaft, dieser Forderung Folge zu leisten, zwangsläufig wesentlich größer als in der Vergangenheit.

Das Wohnen in "Risikozonen" sei in Brasilien eher die Regel als die Ausnahme, erklärte Präsidentin Dilma Rousseff nach einem Flug über das Katastrophengebiet. Wo sollen die Menschen künftig leben, die im Höchstfall den doppelten Mindestlohn verdienen, wenn es keine Wohnungsbaupolitik gibt? [1] So zutreffend diese Einschätzung sein mag, steht und fällt ihre Bedeutung mit den daraus gezogenen Konsequenzen. Angeblich sollen 3.000 Häuser für die Zwangsumgesiedelten errichtet werden, doch daß das tatsächlich in absehbarer Zeit geschieht, glauben die wenigsten von ihnen. Greifbarer muten da schon die 300 Dollar im Monat an, die jeder Umsiedler bis zu ein Jahr lang erhalten soll. Diese Summe dürfte es ihnen zumindest erlauben, in den kommenden Monaten eine Bleibe zu finden - bis Gras über die Katastrophe gewachsen, das Geld aufgebraucht und die neuen Häuser nicht in Sicht sind. Dann bleibt nur die Notlösung, wieder dorthin zurückzukehren, wo man beim nächsten Sturzregen verschüttet zu werden droht.

Anmerkungen:

[1] Brazil's floods force urban planning rethink (18.02.11)
New York Times

23. Februar 2011