Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1021: Bundesregierung schmiedet am postkapitalistischen Regime (SB)



Daß die Systemkrise kapitalistischer Verwertung nicht mehr zu bändigen ist, wissen die führenden Protagonisten und Profiteure dieser Gesellschaftsordnung am allerbesten. Ihnen geht es längst nicht mehr darum zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Sie wollen vielmehr möglichst lange Übergangsfristen erwirtschaften, um ein innovatives Regime jenseits der bekannten Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse auszugestalten und durchzusetzen. Dem Sturz des Kapitalismus frohen Mutes entgegenzusehen, als läute dieser das Ende der Verfügungsgewalt ein, besteht daher nicht der geringste Grund. Das Gegenteil ist der Fall, droht sich die gebotene Streitbarkeit doch an vergehenden Fragmenten abzuarbeiten und zu erschöpfen, während der kommende Moloch weithin unerkannt bereits sein Haupt erhebt.

Schuld endet nie, da eine Entschuldung nicht nur so gut wie unmöglich, sondern prinzipiell nicht vorgesehen ist. Wenn die Bürger Europas bis hin zu ganzen Staaten in das Joch der Schuldknechtschaft gebunden werden, so nicht nur für eine Frist, nach deren Bewältigung sie in eine wie auch immer definierte Freiheit entlassen würden. Autonomie, und sei es nur in Gestalt der Fiktion, man sei im Treiben ungezügelter Konkurrenz womöglich doch seines Glückes Schmied, soll der Vergangenheit angehören.

Soziale Grausamkeiten so zu verabreichen, daß man die Daumenschrauben dosiert immer enger zieht, Opfer gegeneinander ausspielt, sie mit trügerischen Hoffnungen impft, kurz den wachsenden Druck von oben in ein Treten nach unten transformiert, ist die politische Kunst der Stunde. Um keinen Preis darf die Erkenntnis der Ausweglosigkeit in den Drangsalierten reifen. Gelangten sie zu dem Schluß, daß sie nichts zu verlieren haben, weil Besserung ihrer Lebensverhältnisse nie mehr eintreten wird, verlöre der selbstgewählte Anteil der Fessel womöglich seine Bindekraft. Daraus folgte nicht zwangsläufig eine Erhebung gegen das Regime, die unbeugsam genug wäre, jede aus der Not geborene Beschränkung zurückzuweisen. Viel wahrscheinlicher wäre ein flutwellenartiger Sturm der Verzweifelten, die in einem finalen Akt zumindest jene mit in den Abgrund zu reißen versuchten, die sie auf seiten ihrer Herren und Peiniger verorten. Für letztere wäre schon dieses Szenario furchterregend genug, daß sie kein Jota machiavellistischer Kunst auslassen, die Zügel ordnungspolitischer Räson und ideologischer Zurichtung unausgesetzt straffzuhalten.

In ihrem europäischen Führungsanspruch setzt sich die Bundesregierung brachial an die Spitze der Beförderung künftiger Herrschaftsverhältnisse und diktiert unverhohlen deren Bedingungen. Auf Druck aus Berlin wurde der sogenannte Anti-Schulden-Pakt regelrecht aus dem Boden gestampft, über den auf dem aktuellen EU-Gipfel in Brüssel verhandelt werden soll. Bundeskanzlerin Angela Merkel drängt darauf, daß alle Staaten Schuldenbremsen in ihrer Verfassung einführen sollen. Die Einhaltung der Vorgaben werde streng überwacht, und der Europäische Gerichtshof (EuGH) solle die Umsetzung kontrollieren. "Die eigentliche Botschaft heißt: Wir sind bereit für mehr Verbindlichkeit, wir reden uns nicht mehr raus", faßte Merkel das geplante automatische Sanktionsregime in grotesk verharmlosende Worte. Außenminister Guido Westerwelle erneuerte das abgedroschene Rettungsversprechen - natürlich ohne auszuführen, wer gerettet werden soll und wer den Preis dafür zu bezahlen hat: "In Europa besteht große Einigkeit, mit dem Fiskalpakt einen großen Schritt in Richtung einer wirklichen europäischen Stabilitätsunion zu gehen. Damit können wir das Vertrauen der Bürger und auch der Märkte zurückgewinnen." [1]

Zwar konnte sich Berlin nicht mit der Forderung durchsetzen, den geplanten Fiskalpakt durch eine Klagemöglichkeit der EU-Kommission zu härten. Ersatzweise sieht der Entwurf nun vor, daß Mitgliedsländer vor dem EuGH klagen können, wenn Regierungen die Schuldenbremse nicht bindend in ihre nationale Gesetzgebung aufnehmen. Vorgesehen ist die Einführung von strikten Schuldengrenzen für alle Euro-Länder, wobei ein strukturelles Defizit oberhalb von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung mit automatischen Sanktionen geahndet werden soll. Der EuGH kann dann eine Strafe von maximal 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung gegen das betroffene Land verhängen, was bei größeren Staaten durchaus in die Milliarden ginge. [2]

Der zweite Eckpunkt im Fiskalpakt ist die Verschärfung des Defizitstrafverfahrens, das laut EU-Vertrag eingeleitet werden kann, wenn ein Land die Drei-Prozent-Defizitgrenze überschreitet. Da eine qualifizierte Mehrheit der Euro-Finanzminister einem Strafverfahren zustimmen muß, kam es ungeachtet zahlloser Verstöße noch nie dazu. Im Fiskalpakt verpflichten sich die Teilnehmer nun, die Empfehlung der EU-Kommission für ein Verfahren quasi automatisch zu akzeptieren, sofern nicht eine qualifizierte Mehrheit der Finanzminister dagegen stimmt. Das steht allerdings in Widerspruch zum gültigen EU-Recht, das vor allem wegen des britischen Widerstands nicht geändert werden kann. Daraus abzuleiten, beim Fiskalpakt handle es sich um einen weiteren zahnlosen Tiger oder einen bloßen Sturm im Wasserglas, unterschlägt sowohl die Stoßrichtung dieses Rammbocks als auch die Wucht, mit der insbesondere die Bundesregierung Breschen in die verbliebenen Restbestände fiskalischer Autonomie der Mitgliedsstaaten schlägt und damit umfassenden Zugriff auf deren gesamte Innenpolitik verlangt.

Wohin der Zug nach Auffassung der Bundesregierung fahren soll, unterstreicht ihr Vorschlag, Griechenland unter Aufsicht eines "Sparkommissars" zu stellen. Berlin hat den anderen Euro-Ländern ein Papier mit Vorschlägen geschickt, wie die griechische Regierung künftig zur Einhaltung von Spar- und Reformzielen gezwungen werden kann. Darin wird unter anderem die Einsetzung eines "Sparkommissars" zur Haushaltskontrolle in Athen gefordert. Zudem solle der griechische Staat Einnahmen zunächst zur Schuldentilgung verwenden, bevor andere Ausgaben getätigt werden können. Um die hochkochende Empörung gegen diese Zumutung zu beschwichtigen, bezeichnete der Sprecher des Bundesfinanzministeriums, Martin Kotthaus, den Begriff "Sparkommissar" zwar als irreführend, doch verteidigte er zugleich die Überlegungen zu dessen Einsetzung: "Es geht darum, zu schauen, wie kann man eine stärkere Übersicht, eine stärkere Kontrolle über die Frage der Haushaltsexekution haben." Die Überlegungen liefen auf eine "Verstärkung des Troika-Modells" hinaus. Eine neu einzurichtende Institution zur Begleitung des Reformprozesses wäre aus deutscher Sicht "idealerweise mit bestimmten Entscheidungsbefugnissen" ausgestattet, so Kotthaus.

"Das größte Land der EU, Deutschland, muss in seinen Äußerungen vorsichtiger sein", mahnte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. Es stehe allenfalls den europäischen Institutionen, nicht aber den deutschen Politikern zu, eine Vormundschaft für Griechenland zu fordern. Aus diesen Worten spricht tiefes Unbehagen angesichts deutschen Dominanzstrebens, vor allem aber der Vorwurf, man dürfe seine Pläne nicht derart offen ausbreiten. Es müsse darauf geachtet werden, die Griechen "nicht mehr als nötig zu verletzen", so Asselborn. "Diese Drohungen gehen in die falsche Richtung." Ähnlich argumentiere der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann: "Griechenland hat harte Bedingungen zu erfüllen, es ist für die Griechen sicher nicht leicht. Aber beleidigen muss man niemanden in der Politik. Das bringt nichts und das führt nur in die falsche Richtung." [3]

Der Bundesvorsitzende der Linken, Klaus Ernst, hat die Kanzlerin aufgefordert, sich umgehend vom Vorschlag der Einsetzung eines "Sparkommissars" für Griechenland zu distanzieren. Die Idee sei "geschichtsvergessen", und schon der Umstand, daß man in der deutschen Regierung einen solchen Vorschlag erörtere, wirke in Griechenland wegen der Erinnerungen an die Besatzungszeit wie ein innenpolitischer Sprengsatz. [4] Damit traf er ins Schwarze: Die griechische Tageszeitung Ta Nea erschien heute mit einer Schlagzeile in deutscher Sprache: "Nein! Nein! Nein!" stand da in großen Buchstaben; dazu eine Karikatur, in der Kanzlerin Angela Merkel eine Landkarte Griechenlands wie eine Marionette hält. Das ARD-Hörfunkstudio Athen zitierte einen 32 Jahre alten Lehrer mit den Worten: "Historisch gesehen gab es schon einmal so eine Überwachung der griechischen Regierung: 1941 bis 1944, als Griechenland von der Deutschen Armee besetzt war. Damals musste die Regierung der Wehrmacht Rechenschaft ablegen. Vielleicht sollten wir gleich zum deutschen Protektorat werden! Dann werden wir wenigstens auch so gut wie die Deutschen leben können!" [5]

Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/wirtschaft/fiskalpakt102.html

[2] http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Merkel-blitzt-zum-Auftakt-des-EUGipfels-ab/story/11297255

[3] http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/debatte-um-kontrolle-in-griechenland-deutschlands-sparkommissar-bringt-europa-auf-die-barrikaden_aid_708551.html

[4] http://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland1786.html

[5] http://www.stern.de/politik/deutschland/schuldenkrise-in-griechenland-deutsche-abgeordnete-gegen-einsatz-eines-sparkommissars-1779838.html

30. Januar 2012