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RAUB/1073: Wo die Ohnmacht am größten ist ... Lampedusa ist überall (SB)




"Lampedusa ist überall"- das ist keine leichtfertige Solidaritätsparole, die die Menschenfeindlichkeit der europäischen Flüchtlingsabwehr und die Repressalien, denen Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik ausgesetzt sind, zu gering schätzt. Lampedusa ist überall, weil die herrschende Eigentumsordnung die Welt mit gegenständlichen wie unsichtbaren Grenzen, an denen die Interessen und Wünsche des Gros der Menschen zerschellen, vertikal wie horizontal durchzieht. Vertikal in Gestalt todbringender Grenzsicherungsanlagen und in Todesfallen verwandelter geographischer Hindernisse. Horizontal als globales ökonomisches Gewaltverhältnis, das die Bewohnerinnen und Bewohner der Megaslums des Südens und der Elendsquartiere des Nordens zum Subjekt einer Klasse macht, die sich als solche noch zu konstituieren hat, wenn sie nicht in der Passivität bloßen Erduldens verbleiben will.

Der wohlfeile Mythos von der Einen Welt hüllt das disparate Verhältnis von zerstörerischer Lohnsklaverei, räumlicher Enge, verseuchtem Wasser und dreckiger Luft auf der einen, militärisch abgeschotteter Terrains der Ressourcensicherung und des privilegierten Luxuskonsums auf der anderen Seite in den schönen Schein einer Humanität, die kaum gebrochener sein könnte. Die materiellen Nöte, die die Menschen von einem Ort absehbarer Hoffnungslosigkeit zum nächsten treiben, sind Ergebnis einer Parzellierung der Welt, in der in Regionen verödeter Natur und blanken Hungers, verfallener Gemeinwesen und bloßer Subsistenz Werte erzeugt werden, die sich für ihre Produzentinnen und Produzenten als Mangel an allem darstellen, was der eigenen Hände Arbeit hervorgebracht hat. Die am Beginn dieser Wertschöpfungskette verausgabte Lebenskraft und -zeit soll an ihrem Ende in die nachhaltige Reproduktion eines Reichtums münden, deren Nutznießer es für ihr naturgegebenes Recht halten, nicht erleiden zu müssen, was Menschen, denen ihre Lebenssicherheit zu einem Gutteil geschuldet ist, aus angeblich nicht minder schicksalhaften Gründen bedrängt.

Dabei sind die urbanen Zentren, in denen die Ströme des Handels- und Finanzkapitals gewinnbringend abgeschöpft werden, nicht mehr auf die Metropolengesellschaften des Nordens beschränkt, sondern haben sich auch in den als Wachstumsmotoren geltenden Schwellenstaaten des Südens angesiedelt. Da das Nebeneinander von krasser Armut und glitzerndem Reichtum in diesen Global Cities mitunter nur durch eine hohe Mauer voneinander getrennt ist, tritt die exekutive Gewalt, die die soziale Hierarchie zementiert, dort besonders deutlich hervor.

Um so bezeichnender ist die Ignoranz, mit der die neoliberale Sicht einer flachen, angeblich nur durch Preisdifferenzen der Arbeit und des Konsums segmentierten Welt der gelungenen Globalisierung die Repression ausblendet, mit der die Elendsbevölkerungen in Schach gehalten werden. Die den hochmobilen globalen Funktionseliten selbstverständlichen Freiheiten des Kapital-, Waren-, Arbeits- und Personenverkehrs lassen sich nur deshalb profitabel nutzen, weil die erzwungene Immobilität der Armen die übergroße Verfügbarkeit der Ware Arbeit zu Niedrigstpreisen sicherstellt. Nur weil die Menschen in der akuten Überlebensnot der Gesellschaften, in die sie hineingeboren wurden, mit ökonomischer und militärischer Gewalt festgehalten werden, bleibt das globale Produktivitätsgefälle so steil, daß das Elend am Fuß des Berges von oben kaum mehr ausgemacht werden kann.

Es handelt sich nicht nur um Rassismus, wenn der weiße Europäer nach Belieben durch die Welt reisen kann, während der schwarze Afrikaner beim Versuch, es auch nur ins Kellergeschoß der europäischen Wohlstandspyramide zu schaffen, elendiglich ertrinkt. Es ist Ausdruck eines weltumspannenden sozialen Krieges, daß die Not der einen und der Überfluß der anderen in räumlicher Segregation nicht nur koexistieren, sondern einander bedingen. Flüchtlinge treten als Antithese zu einer Reichtumsproduktion, deren Herren per Tastendruck und Mausklick über Leben und Tod von Millionen entscheiden, auf eine Weise in Erscheinung, die die ansonsten verborgen bleibende Not unübersehbar macht. Als Opfer nicht nur politischer und sozialer, sondern ökonomischer und ökologischer Gewalt, die in direktem Zusammenhang zu den räuberischen Strategien europäischer Kapitalakkumulation stehen, sind sie den Bevölkerungen der EU nach deren eigener Moralität auf eine Weise gleichberechtigt, daß sie nicht vehementer abgewehrt werden könnten, um die grundstürzende Konsequenz vorgeblicher Humanität nicht einlösen zu müssen.

So flüchtet sich das humanitäre Credo der EU in den windelweichen Vorwand administrativen Versagens. Als sei es je darum gegangen, Flüchtlingen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, werden Krokodilstränen über eine gescheiterte Migrationspolitik vergossen, deren herrschaftsstrategische Absicht auf der Hand liegt [1]. Auf hemdsärmlige Weise robuster zeigen sich dagegen jene Politiker, die die Auswahl, die der Plantagenbesitzer auf dem Sklavenmarkt trifft, auf die Boat People im Mittelmeer anwenden, indem sie im Schnellverfahren selektieren wollen, wer in die eigene Mehrwertproduktion eingespeist und wer dem Elend überantwortet werden soll. "Grenzen und Fluchtwege sind Selektionsstrecken" [2], auf denen den angeblich vom Wohlfahrtsstaat verwöhnten Marktsubjekten sozialdarwinistischer Druck gemacht wird, indem am Beispiel verwertungsfähiger Flüchtlinge das Exempel totaler Überlebenskonkurrenz statuiert wird.

Daß die Aussicht, ungeschützt durch das Abschottungsregime nationalstaatlicher Migrationspolitik in den Wettbewerb mit besonders leidgeprüften Menschen treten zu müssen, Nationalchauvinismus gerade dort hervorbringt, wo die Menschen allen Grund hätten, sich über ihre eigene Unterwerfung klar zu werden und dagegen aufzustehen, ist ein Erfolgsrezept, dessen sich die deutschen Eliten seit Anschluß der DDR an die BRD - nicht zuletzt betrieben mit dem Argument einer Reisefreiheit, die den Tausenden im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge den Hohn der "freien Welt" angedeihen läßt - mit großem Eifer bedienen. Es schwört die an den Rand eigener Reproduktionsmöglichkeit gedrängten Staatsbürger in der Hoffnung, unter dem Regime des Teilens und Herrschens auf der Seite der Gewinner zu stehen, auf ein nationales Raubkollektiv ein, dessen soziale Widersprüche auf die vermeintliche Bedrohung Europas durch die Armut der Welt projiziert werden. Um dazuzugehören, müssen nicht nur blutige Grenzen, sondern massive Repression nach innen und kriegerische Aggression nach außen akzeptiert werden.

So wird dem Menschen auch noch der letzte Funken einer Humanität ausgetrieben, die erst zu verwirklichen wäre, indem sie den und die andern nicht zum Objekt des Raubes und der Konkurrenz verkommen läßt. Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Kampf gegen eine Herrschaft, die nichtvorhandenen Widerstand stets zum Anlaß der unumkehrbaren Negation außerhalb der eigenen Verfügungsgewalt verbliebenen und damit nicht verwertungsfähigen Lebens nimmt, finden sich gerade dort, wo die Ohnmacht gegen die ansonsten um so vernichtendere Entscheidungsgewalt der Staaten und Institutionen über Leben und Tod gerichtet wird. Daß dies in Anbetracht eines Krieges, der dem europäischen Grenzregime vorausgeht, in ihm manifest wird wie aus ihm folgt, allen auch nichtvorhandenen Mutes bedarf, ist der Humus einer Solidarität, in der sozialer Widerstand zu verbindlicher Verläßlichkeit heranreift.


Fußnoten:

[1] Arian Schiffer-Nasserie: Die Überflüssigen - Die Toten vor Lampedusa sind notwendig. Fragt sich nur - wofür und für wen?
http://www.streifzuege.org/2013/die-ueberfluessigen

[2] Eberhard Jungfer: Migrationen im Sozialen Weltkrieg
http://www.materialien.org/texte/migration/JungferWeltkrieg.pdf

24. Oktober 2013