Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1076: Nicht den Tod planen, sondern zu leben beginnen ... (SB)




In den USA ist man in der Debatte um aktive Sterbehilfe schon weiter. Warum sich lange mit ethischen Fragen aufhalten, wenn die Option der Euthanasie einen Kostenvorteil in der Lebensplanung bedeuten könnte? Robert Leeson, Professor für Ökonomie an der Stanford University, schlägt in einem Gastbeitrag auf dem Online-Portal der Tageszeitung San Francisco Chronicle [1] vor, schon in jungen Jahren zu planen, was in sterbenskranker Bedrängnis kaum noch auf rationale Weise möglich sei. So könne die frühzeitige Entscheidung, mit Hilfe eines vorzeitigen Ablebens auf die besonders kostenintensive Pflege und medizinische Versorgung am Lebensende zu verzichten, mit einer Art metaphorischer Unsterblichkeit in Form der mit dem eigenen Namen verbundenen Alimentierung eines Lehrstuhls oder anderer ethisch hochwertiger Zwecke honoriert werden. Andererseits sei auch ein finanzielles Entgelt für den Verzicht auf ein Sterben, bei dem das Leben des Menschen eigentlich schon aufgehört habe, denkbar.

Finanzielle Anreize könnten eine große Hilfe bei der Entscheidungsfindung des rational agierenden Marktsubjekts sein. Zudem sollte dieser Prozeß durch politische Weichenstellungen beflügelt werden, andernfalls könne es zum Nachteil aller gereichen, daß überhaupt keine Entscheidung über Art und Weise des eigenen Ablebens getroffen werde, gab Leeson warnend zu bedenken. Mehr als ein Viertel der Mittel, die der öffentlichen Krankenversicherung Medicare zur Verfügung stehen, würden für das letzte Lebensjahr ausgegeben. Mit frühzeitig getroffenen Vorkehrungen könne verhindert werden, daß Sterbende nur deshalb noch Kosten erzeugten, weil sie in ihrer Lage nicht mehr entscheidungsfähig seien.

Selbst wenn mit den Ausgaben für das letzte Lebensjahr noch meßbare Vorteile für die Betroffenen erkauft werden könnten, so müsse dies dagegen abgewogen werden, daß ein verlängertes Sterben öffentliche Mittel verschlinge und für die Angehörigen, die ihre Eltern und Verwandten schon lange vor deren Begräbnis verloren hätten, eine traumatische Erfahrung sein könnte. Natürlich könne kein Einwand dagegen erhoben werden, wenn jemand seine Versorgung am Lebensende selbst finanziere, andererseits sollte auch nicht beanstandet werden, wenn der Steuerzahler es vorziehe, lieber eine Senkung der Mortalitätsrate Neugeborener zu finanzieren, als das Geld für die Pflege am Lebensende auszugeben.

Leeson rennt mit dem Imperativ neoliberaler Eigenverantwortung in jeder Lebens- und Sterbenslage nicht nur in den USA offene Türen ein. Schon 1998 hat der ehemalige Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar für den Fall einer Begrenzung der Ärztehonorare "sozialverträgliches Frühableben" in Aussicht gestellt. Die Kosten-Nutzen-Ratio wird in der aktuellen Debatte um aktive Sterbehilfe gerne hintangestellt, doch sie steht längst wie ein Elefant mitten im Raum. Die mit ethischen Argumenten verhandelte Freiheit ist von der Maxime kapitalistischer Verwertungsfreiheit nicht zu lösen, sondern fällt letztinstanzlich stets auf sie zurück.

2008 wandte sich die an Lungenkrebs erkrankte Barbara Wagener an die öffentliche Krankenversicherung des Bundesstaates Oregon, um ein von ihrem Onkologen verschriebenes Medikament finanziert zu bekommen, daß das Wachstum ihres Tumors verlangsamte und damit ihr Leben verlängerte. Ihr wurde mitgeteilt, daß die Finanzierung der Therapie einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium nicht vorgesehen sei, man ihr aber die Bezahlung einer Palliativversorgung anbiete, die auch die Möglichkeit beinhalte, aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. [3] Nachdem der Fall publik geworden war, übernahm die Herstellerfirma des Mittels die Kosten der Medikation.

Die Legalisierung des unter aktivem ärztlichen Einsatz herbeigeführten Sterbens zu fordern und die ökonomische Gewalt des sozialen Drucks zu ignorieren, unter dem pflegebedürftige Patienten in Ermangelung eigener Mittel und einer in Cent und Euro nicht vergütbaren menschlichen Zuwendung den Weg des geringsten Widerstands wählen, ist das Privileg all jener, denen die existentielle Not der Armut fremd ist. "Mein Tod gehört mir" [2], so das Credo des seit 47 Jahren im Rollstuhl sitzenden ehemaligen MDR-Intendanten Udo Reiter, der nicht als versorgungsbedürftiger Pflegefall vor sich hindämmern möchte. Vielen Menschen - und Behinderten allzumal - gehört nicht einmal das Leben, weil sie es als Ware Arbeitskraft fremdbestimmt verkaufen müssen oder weil sie als Empfänger von Sozialtransfers erst recht Störfaktoren der bürgerlichen Eigentumsordnung sind. Nicht den Tod planen, sondern zu leben beginnen, indem der Streit gegen die auf Tauschwert und fremden Nutzen reduzierte Vergesellschaftung aufgenommen wird, wäre ein probates Mittel gegen die Nekrophilie des Kapitalismus.


Fußnoten:

[1] http://www.sfgate.com/opinion/article/Euthanasia-can-be-an-economic-decision-made-early-4888933.php

[2] http://www.sueddeutsche.de/leben/selbstbestimmtes-sterben-mein-tod-gehoert-mir-1.1856111

[3] http://www.catholicnewsagency.com/news/oregon_health_plan_covers_assisted_suicide_not_drugs_for_cancer_patient/

22. Januar 2014