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RAUB/1114: Guter Cop, böser Cop und die griechische Tragödie (SB)



Nach offizieller Lesart ein souveräner Staat, hat Griechenland de facto den Status eines Protektorats, dessen Innenpolitik in den Ketten des Schuldenregimes auf Jahrzehnte hinaus von Brüssel und Berlin diktiert werden soll. Wenngleich es sich zweifellos um ein Zwangsverhältnis handelt, dessen Fesseln immer enger gezogen werden, ist der Ausbruch nicht völlig ausgeschlossen. Das weiß niemand besser als die Gläubiger, die sich mitunter erbittert darüber streiten, wie man das Opfer dauerhaft zur Ader lassen kann, ohne daß es vollständig ausblutet oder sich in seiner Verzweiflung gegen die Peiniger erhebt.

Deren Langzeitplan sieht vor, die griechischen Staatsschulden von derzeit über 170 Prozent auf 74 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2060 zu reduzieren. Die Unmöglichkeit, die Schulden jemals zurückzuzahlen, dürfte unter anderem dazu führen, daß die heute lebende Generation das Ende der Krise größtenteils nicht mehr erleben wird. Als Bedingung für neue Hilfskredite fordert die Eurogruppe mehrheitlich einen aberwitzigen Primärüberschuß von 3,5 Prozent, der für jeden anderen europäischen Staat einschließlich Deutschlands absolut utopisch wäre. Die Führung des IWF hält diese Zielmarge denn auch für unerreichbar und will sie auf 1,5 Prozent senken. Das würde jedoch bedeuten, daß die Schulden umstrukturiert und in Teilen erlassen werden müßten, um einen Staatsbankrott zu vermeiden. Das wiederum lehnt die Bundesregierung rigoros ab, doch will sie zugleich den IWF mit im Boot haben.

Aus Perspektive deutscher Regierungspolitik soll Griechenland in der Eurozone und EU bleiben, damit es dauerhaft so effektiv wie möglich ausgebeutet werden kann. Während das deutsche Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg die Ressourcen des Landes rigoros plünderte und ins Reich abführte, so daß die griechische Produktion praktisch zum Erliegen kam und die Bevölkerung massenhaft verhungerte, ist das moderne Raubgefüge unter Führung der Bundesrepublik komplexer und langfristiger angelegt. Zum einen fließen die Hilfsgelder zum allergrößten Teil in den Schuldendienst und damit die Rettung und Stabilisierung deutscher und europäischer Banken, zum anderen wird die verschärfte Ausbeutung der Bevölkerung und der Ausverkauf griechischer Infrastruktur, Bodenflächen und anderer Ressourcen durchgesetzt. Für das spekulative Kapital ist dieses herausragende Investitionsziel mit Blick auf Ausmaß, Intensität und geographische Ausbreitung eine wahre Goldgrube. [1]

Schnittstelle der Umsetzung ist die Syriza-Regierung, die von deutscher Seite in einer politischen Rollenverteilung neuerdings wechselweise gegeißelt und getröstet wird, um ihre Funktionstüchtigkeit als kooperativer Sachwalter hegemonialer Interessen der Bundesrepublik und der EU am Leben zu halten. Sigmar Gabriel, geübt im opportunen Rollenwechsel, wie der sozialdemokratische Coup um Martin Schulz unterstreicht, hatte im Juni 2015 noch als Wirtschaftsminister gedroht, man werde nicht die "überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen". Überall in Europa wachse die Stimmung: "Es reicht!"

Seither ist der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras wie erwünscht noch weiter in die politische Mitte gerückt und wurde vom damaligen SPD-Vorsitzenden im vergangenen Jahr zu einem Treffen der sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs Europas eingeladen und in ihren Kreis eingeführt. Als Außenminister schlug Gabriel bei seinem aktuellen Besuch Griechenlands geradezu samtweiche Töne an. Er habe "Respekt" für das, "was die griechische Bevölkerung und die Politik getan haben". Die früheren Reformen der rot-grünen Koalition in Deutschland seien von manchen als "großer Sturm" empfunden worden, doch verglichen mit dem, was Griechenland durchmache, seien sie "vielleicht ein lauer Sommerwind" gewesen. [2]

Mit Empathie für die griechische Misere gab Gabriel den guten Deutschen ab, als sei er nicht Teil der systematischen Zurichtung, sondern stehe auf seiten der Syriza-Regierung. "Europa war nie nur ein Friedensversprechen, sondern auch ein Wohlstandsversprechen", sparte der Sozialdemokrat nicht mit blumigen Phrasen und schrieb am Tag seiner Reise nach Athen in der FAZ: "Wer sein Land reformiert, muss mehr Zeit zum Abbau der Defizite und Hilfen bei Investitionen bekommen." [3] Wie der IWF schlug auch Gabriel vor, die Sparauflagen zu lockern: "Zu verlangen, dass Griechenland über einen Zeitraum von zehn Jahren einen jährlichen Haushaltsüberschuss von 3,5 Prozent generieren müsse, ist Voodoo-Ökonomie." Zudem gelte es, mit der tief verwurzelten Legende aufzuräumen, wonach Deutschland der größte Nettozahler in der EU sei. Tatsächlich sei die Bundesrepublik ein Netto-Gewinnerland, das wirtschaftlich und politisch mehr als jedes andere profitiere.

Der griechischen Führung wird der Antrittsbesuch des neuen deutschen Außenministers in angenehmer Erinnerung bleiben. Nach einem offiziellen Auftritt nahmen Sigmar Gabriel, sein Amtskollege Nikos Kotzias, Alexis Tsipras und der griechische Regierungssprecher das Abendessen in einem Restaurant mit Meerblick ein, anschließend saß man in einer Bar bis nach Mitternacht zusammen. Gabriel wurde als Führungspersönlichkeit "mit europäischem Profil" gelobt, Tsipras dankte ihm herzlich und Kotzias, der mit einer Deutschen verheiratet ist und fließend Deutsch spricht, würdigte zum Abschied Gabriels "vorsichtige und schöne Worte" über sein Land und nannte ihn schließlich "unseren Freund".

Tsipras kann jede Unterstützung gebrauchen, die den Eindruck dämpft, er liefere Griechenland widerstandslos den Gläubigern aus. Die Enttäuschung nicht nur im linken Lager angesichts seines Austeritätsprogramms, das die Forderungen der sogenannten Institutionen mitunter sogar übererfüllt hat, ist abgrundtief. Wären heute Neuwahlen, würde Syriza abstürzen und die konservative Nea Demokratia haushoch gewinnen. Gabriel ist mit seiner Stoßrichtung Wolfgang Schäuble in die Parade gefahren, hat sich profiliert und nach Kräften Wahlkampf gegen die Union gemacht. All das ist freilich in Athen wie in Berlin in erster Linie Futter für die Medien und die Bevölkerung, deren Illusionen genährt werden sollen, es gebe doch versöhnliche Absichten, nutzbare Spielräume und grundlegende Differenzen innerhalb der deutschen Regierungskoalition.

Wie nicht anders zu erwarten, setzte es harsche Schelte des Bundesfinanzministers. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk betonte Wolfgang Schäuble erbost, jedes Land müsse seine eigenen Probleme lösen. Das könne Deutschland nicht für Griechenland tun, das müßten die Griechen schon selber machen. Es sei eine falsche Botschaft zu sagen, es liege am Geld. Deutschland habe riesige Summen an Risiken für Griechenland übernommen: "Aber seine Wirtschaft so zu reformieren, dass sie wettbewerbsfähig wird, die Verwaltung so in Ordnung zu bringen, dass das auch modernen Standards entspricht, das ist eine griechische Aufgabe." Mit solchen Sprüchen, man müsse mehr Geld nach Europa geben, sei das Problem nicht gelöst, es werde lediglich der Anreiz falsch gesetzt: "Das ist ein schwerer Fehler!" Griechenland habe die Verpflichtungen freiwillig übernommen und wolle im Euro bleiben. Dazu müsse das Land Reformen durchführen, doch wenn die dafür eingeräumte Zeit nicht genutzt werde, weil das unbequem ist, sei das der falsche Weg: "Hilfe ja, aber nicht in ein Fass ohne Boden!" [4]

"Wir stehen vor besonders kritischen Entscheidungen sowohl für unser Land als auch für Europa", umschreibt Tsipras den abermaligen Engpaß auf seinem Weg ohne Entrinnen - wenn nicht für ihn persönlich, so jedenfalls fast die gesamte Bevölkerung Griechenlands. In den aktuellen Verhandlungen haben Athen, EU-Kommission, Euro-Rettungsfonds ESM und Europäische Zentralbank bislang keine Einigung über ein weiteres Reformprogramm erzielt. Im Juli muß Griechenland Anleihen bei der Europäischen Zentralbank bedienen, spätestens Ende Juni muß sich Tsipras mit den Europartnern und dem IWF auf weitere Reformen und Sparmaßnahmen geeinigt haben. Mit erneuten Kürzungen der Renten und einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stehen wiederum soziale Grausamkeiten an, die Armut, Erniedrigung, Krankheit und vorzeitigem Tod zahlreicher Menschen beschleunigen werden.

Vor seinem Abflug nach Athen hatte sich Gabriel mit Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble ausgetauscht. Man sei sich einig, daß Griechenland in der Eurozone und in der EU bleiben solle, das sei das Ziel der Bundesregierung. Wenn der deutsche Außenminister erklärt, die Verhandlungen dürften keine endlose Geschichte werden, weshalb man alles dafür tun müsse, "möglichst schon im April zu einer Lösung" zu kommen, komplettiert er den in Griechenland verhaßten deutschen Finanzminister um den Part des guten Cop. Während Schäuble die Athener Regierung an die Wand fährt, bietet ihr Gabriel zum Trost die Schulter an. Beides zusammen dürfte geeignet sein, den nächsten Akt der griechischen Tragödie ohne Störungen über die Bühne zu bringen.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2017/02-23/053.php

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-sigmar-gabriel-lobt-reformanstrengungen-und-setzt-sich-von-schaeuble-ab-a-1140177.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/aussenminister-besuch-gabriel-zeigt-empathie-fuer-die.720.de.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/bundesfinanzminister-zu-gabriel-aeusserungen-in-athen-hilfe.694.de.html

24. März 2017


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