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RAUB/1122: Leiharbeit - Tagelöhner im neofeudalen Arbeitsregime (SB)



Die Durchsetzungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft selbst in Krisenzeiten, aus denen sie bislang im internationalen Konkurrenzkampf gestärkt hervorgegangen ist, verdankt sich nicht zuletzt dem höchstentwickelten Arbeitsregime Europas. Der größte Niedriglohnsektor der EU, verbunden mit einer tiefgreifenden Spaltung, Vereinzelung und Entmächtigung der Lohnabhängigen, hat den Produktivitätsvorsprung der Bundesrepublik und damit deren ungebrochene Exportoffensive zu Lasten anderer Volkswirtschaften gesichert. Das relativ hohe Wohlstandsniveau hierzulande ist ein statistischer Wert, der die wachsende Polarisierung der deutschen Gesellschaft verschleiert. Schien die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zunächst nur eine Unterschicht zu erfassen, so frißt sie sich längst tief in die Mittelschicht hinein. Daß heute auch Akademikerinnen, andere Hochqualifizierte und teils ganze Berufssparten keine dauerhaft feste Anstellung mehr finden und von einem dramatisch sinkenden Lebensstandard bis hin zu Altersarmut bedroht sind, trägt dazu bei, daß diese spezifische Form der Ausbeutung und Zurichtung inzwischen auch in bürgerlichen Kreisen als Bedrohung wahrgenommen und in gewissem Umfang als schädlich für die Gesellschaft kritisiert wird.

Eine Waffe aus dem Arsenal verschärfter Verwertung der Arbeitskraft ist die Leiharbeit, die in Deutschland in den vergangenen Jahren rasant zugenommen hat. Dabei wird ein Beschäftigter von einem Arbeitgeber gegen Geld an eine andere Firma ausgeliehen, aber von der Zeitarbeitsfirma bezahlt und erhält in der Regel nur 58 Prozent des Durchschnittslohns. Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag zudem hervorgeht, hat sich die Zahl der Leiharbeiter seit 2003 verdreifacht und betrug Ende 2016 fast eine Million Arbeitskräfte. Leiharbeit ist durch sehr kurze Arbeitsverhältnisse geprägt: 54 Prozent enden spätestens nach drei Monaten, lediglich 22,3 Prozent dauern länger als neun Monate, mehr als 15 Monate nur noch 14,1 Prozent. Nicht von ungefähr ist der Anteil von Leiharbeit in den ärmsten Bundesländern Bremen (4,7 Prozent) und Thüringen (3,9 Prozent) am höchsten. [1]

Da Leiharbeit die betroffenen Menschen im Grunde genommen zu Tagelöhnern degradiert und damit neofeudale Verhältnisse etabliert, ist sie ein Albtraum für Beschäftigte. Leiharbeiter werden mit Dumpinglöhnen abgespeist, haben schlechtere Arbeitsbedingungen und eine hohe Wahrscheinlichkeit, nach kurzer Zeit erneut arbeitslos zu sein. In beschäftigungslosen Zeiten oder im Krankheitsfall gibt es kein Geld, die soziale Absicherung schwindet, die Rente wird dürftig ausfallen. Ständig wechselnde Arbeitsstellen rauben jegliche Sicherheit und Wertschätzung, wenn es schlecht läuft wird man zuerst entlassen. In der Zeit zwischen den Jobs steht man ständig auf Abruf bereit, Zukunftspläne sind kaum noch möglich. Als frustrierend und krankmachend beschreiben viele Leiharbeiter diese Existenz, irgendwann habe man nur noch Angst. [2]

Nachdem sich Gewerkschaften und die mitregierende SPD lange verbal für eine Begrenzung der Zeitarbeit stark gemacht hatten, beschloß der Bundestag im Oktober neue Regeln für den Einsatz von Leiharbeitern und Werkverträgen. Das am 1. April in Kraft getretene Arbeitnehmerüberlassungsgesetz sieht vor, daß daß ein Leiharbeiter maximal 18 Monate lang an denselben Betrieb ausgeliehen werden darf und danach festangestellt werden muß. Als Hintertür wurde jedoch die mögliche Ausnahme eingebaut, daß sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften auf abweichende Vereinbarungen einigen können. Prompt machten die Tarifparteien der großen Metall- und Elektroindustrie von diesem Schlupfloch Gebrauch: Dort können Leiharbeiter künftig bis zu 48 Monate in einem Betrieb beschäftigt werden, sofern der Arbeitgeber eine entsprechende Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat abschließt. [3]

Wie diese Manöverlage zeigt, ist von den Sozialdemokraten und großen Gewerkschaften kein ernsthafter Kampf gegen die Prekarisierung zu erwarten. Erstere haben seinerzeit in Tateinheit mit den Grünen für die Durchsetzung ebendieser Verhältnisse in großem Stil gesorgt und simulieren nun mit Blick auf ihre erodierende Klientel bei den Urnengängen partielle Schadensbegrenzung. Letztere haben ihre in Jahrzehnten sozialpartnerschaftlicher Kollaboration genossenen Pfründe mit einer zahnlosen Existenz bezahlt. Sie setzen im permanenten Zweifelsfall auf die ihrerseits schrumpfenden Stammbelegschaften und treiben im Schulterschluß mit den Unternehmen die Ausgrenzung und Zurichtung fast beliebig verfügbarer Reservearmeen oder besser gesagt Reservemonaden voran.

Schärfer zur Sache geht hingegen die Linkspartei, deren Fraktionsvize im Bundestag Klaus Ernst das Fazit zieht, daß Leiharbeit "organisierte Lohndrückerei" sei, die mittlerweile eine fatale Rolle auf dem Arbeitsmarkt spiele. Die einzigen, die davon profitierten, seien die Arbeitgeber. Fast die Hälfte der Leiharbeitskräfte sind 30 Tage nach Ende eines Arbeitsverhältnis immer noch ohne neuen Job. Lediglich 26 Prozent haben nach 30 Tagen ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Leiharbeit gefunden. Für jeden Fünften wiederholte sich der prekäre Zyklus ohne absehbares Ende. Von einer Brücke in reguläre Beschäftigung könne mithin keine Rede sein, so Ernst. Nach der Gesetzesreform seien die Betroffenen noch schlechter dran als zuvor: Erst nach neun Monaten müsse gleicher Lohn bei gleicher Arbeit gezahlt werden, doch blieben nur circa 25 Prozent der Leiharbeitnehmer so lange im selben Betrieb. An der Mehrzahl der Leiharbeiter gehe das Gesetz vollkommen vorbei, sie könnten dauerhaft schlechter bezahlt werden. Die Linke fordert daher langfristig die Abschaffung der Leiharbeit, kurzfristig die gleiche Bezahlung wie in der Stammbelegschaft plus eine zehnprozentige Flexibilitätszulage. [4]

Daß Leiharbeit die Brücke in eine reguläre Beschäftigung sei, wie Befürworter argumentieren, läßt sich in der Tat schwerlich belegen. Viele neue Leiharbeiter kommen sogar aus dem ersten Arbeitsmarkt, so daß es sich oftmals um eine Falle für vordem gut Qualifizierte handelt. Die Arbeitsagenturen fungieren faktisch als Durchlauferhitzer für die Zeitarbeitsfirmen, indem sie sowohl höher qualifizierte als auch wenig qualifizierte Arbeitslose weiterreichen: Jeder dritte Job, den sie vermitteln, ist ein Leiharbeitsjob. [5] Mit dem Segen der IG Metall dürfen Leiharbeiter bis zu vier Jahre lang beschäftigt werden, der Export boomt und die hiesigen Unternehmen fahren teils Milliardengewinne ein, verzichten aber dennoch nicht auf atypische Beschäftigte - ganz im Gegenteil. Wurde die Prekarisierung vordem als unvermeidliche Krisenintervention in schlechten Zeiten verkauft, so bedient man sich ihrer in der Phase des Aufschwungs um so mehr.

Da das schlecht zusammenpaßt und man die Bevölkerung nicht mit der Nase auf den Kern der gesellschaftlichen Widerspruchslage stoßen will, bedarf es verbalakrobatischer Rechtfertigungsausflüchte. Lars Peter Feld, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der die Bundesregierung berät, gab im Deutschlandfunk eine Probe aufs Exempel. [6] Als die Leiharbeit unter der rot-grünen Bundesregierung erleichtert wurde, habe sie angesichts des damals "restriktiven Kündigungsschutzes" als Ventil fungiert. Wären Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt sehr flexibel, hätte Leiharbeit einzig die Funktion, die konjunkturellen Spitzen nach oben abzudecken, wenn es besonders gut läuft und die Unternehmen noch unsicher sind, ob es so weitergeht, so der Ökonom. Daß man diese winkelzügige Argumentation nur so verstehen kann, daß die Unternehmen unter allen Umständen profitieren sollen, bestreitet er. Leiharbeit biete schließlich gering qualifizierten Arbeitslosen die Chance, einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden. Ob es sich dabei um reguläre Arbeitsverhältnisse handle, sei "dann wiederum eine andere Frage".

Daran erinnert, daß man doch genau darüber spreche, warum dieser Übergang zumeist nicht gelingt, behauptet Feld kurzerhand, die Leiharbeiter könnten "qualifikatorisch nicht ganz mithalten", und "dann zögerten die Unternehmen, diese Personen einzustellen". Nachdem er die Strategie der Betriebe, die Lohnkosten rabiat zu drücken, in eine Bezichtigung der Leiharbeiter verkehrt hat, begründet er, warum es keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gebe. Da die Leiharbeiter eine "schlechtere Arbeitsmarkthistorie" hätten als Festangestellte, wisse man gar nicht, ob sie die Arbeit genauso gut machten. Hätte man ein sehr liberales Arbeitsrecht, "käme man gar nicht in die Lage, Leiharbeiter mit anderen zu vergleichen und sie in prekäre Beschäftigung hinein zu definieren, sondern wir würden anfangen zu überlegen, was erhöht die Flexibilität im Arbeitsmarkt noch ein bisschen mehr". Der sozialdarwinistische Wunschtraum des Freiburger Ökonomen von restlos flexibilisierten Verhältnissen, unter denen es keine Prekäre mehr gäbe, weil ohnehin alle prekär sind, was jeder selbst zu verantworten habe, nimmt Gestalt an - sofern ihm nicht ziemlich schnell Einhalt geboten wird. Daß sich die allermeisten Parteien erst nach der Bundestagswahl substantieller zu dieser Thematik äußern wollen, ist jedenfalls kein gutes Zeichen.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/315974.prekär-im-hamsterrad.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/leben-wie-ein-tageloehner-bremen-ist-hauptstadt-der.862.de.html

[3] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/leiharbeit-in-deutschland-bis-zu-48-monate-in-der-metallindustrie-moeglich-a-1143881.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/reform-linke-leiharbeiter-mit-dem-neuen-gesetz-schlechter.1766.de.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/leiharbeit-die-haessliche-fratze-der-sharing-economy.720.de.html

[6] http://www.deutschlandfunk.de/oekonom-zur-leiharbeit-keine-organisierte-lohndrueckerei.694.de.html

10. August 2017


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