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RAUB/1164: Ankara - Symbolkarre Marktöffnung ... (SB)



Deutschland und die Türkei verbindet eine lange und enge Zusammenarbeit. Über drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in unserem Land. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner. Über 7.500 deutsche Unternehmer sind in der Türkei engagiert. Auf der Reise will ich unsere Beziehungen weiter intensivieren. Deutschland hat ein Interesse an stabilen und dynamischen Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei.
Peter Altmaier (Bundesminister für Wirtschaft und Energie) [1]

Die Turbulenzen in den deutsch-türkischen Beziehungen waren nichts weiter als ein oberflächlicher Wellenschlag auf dem tiefen Ozean unerschütterlicher gemeinsamer Interessen. Diesen Eindruck vermittelt zumindest die Bundesregierung, welche die heftigen Kontroversen der jüngeren Vergangenheit für ausgeräumt erklärt und von einer Normalisierung der Beziehungen spricht. Wer gehofft haben mochte, daß die Talfahrt der türkischen Wirtschaft Recep Tayyip Erdogan entscheidend schwächen und der Berliner Regierungspolitik die Gelegenheit geben würde, Druck auf den Machthaber auszuüben, um die Repression im Land zu mildern, sieht sich getäuscht. Ganz im Gegenteil greifen Bundesregierung und Wirtschaft dem türkischen Präsidenten unter die Arme, um ihn aus dem Sumpf der Krise zu ziehen und Geschäfte aller Art mit ihm zu machen. Die Türkei ist und bleibt ein wirtschaftlicher und geostrategischer Partner der Bundesrepublik, was für die Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung und Verfolgung unter dem Deckmantel proklamierter Normalität um so verheerende Auswirkungen hat.

Erdogan hatte bei seinem jüngsten Deutschlandbesuch Kreide gefressen, um genau das zu erreichen, was ihm nun in unverhohlener Bereitwilligkeit gewährt wird. Der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier, ist mit einer über 30köpfigen hochrangigen Wirtschaftsdelegation für einen zweitägigen Besuch in der Türkei zu Gast, um die Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Energiefragen zu vertiefen. Altmaier wird dazu auf der Webseite des Ministeriums mit den Worten zitiert, Deutschland und die Türkei verbinde eine lange und enge Zusammenarbeit. "Über drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in unserem Land. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner. Über 7.500 deutsche Unternehmer sind in der Türkei engagiert. Auf der Reise will ich unsere Beziehungen weiter intensivieren. Deutschland hat ein Interesse an stabilen und dynamischen Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei."

Unter Vorsitz Altmaiers und der türkischen Handelsministerin Ruhsar Peksan tagt erstmals die Joint Economic and Trade Commission (JETCO), bei der sich der deutsche Wirtschaftsminister mit seinen Gastgebern darüber austauschen will, wie die Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit verbessert und konkrete Projekte umgesetzt werden können. Die bilaterale Zusammenarbeit soll insbesondere in den Bereichen Handel, industrielle Kooperation, Tourismus und Infrastruktur ausgebaut werden. Gemeinsam mit dem türkischen Energieminister, Fatih Dönmez, eröffnet Altmaier zudem die zweite Sitzung des deutsch-türkischen Energieforums. Geplant sind auch Gespräche mit Finanz- und Schatzamtsminister Berat Albayrak, dem Schwiegersohn Erdogans, sowie Industrieminister Mustafa Varank und Parlamentspräsident Binali Yildirim.

Weitere Programmpunkte sind unter anderem eine Kranzniederlegung am Atatürk-Mausoleum und ein Empfang von über 400 geladenen Gästen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Und natürlich wird Altmaier die Reise auch dazu nutzen, Vertreter von Stiftungen und Organisationen der türkischen Zivilgesellschaft zu treffen und mit ihnen über aktuelle Entwicklungen des Landes zu sprechen. [2] Mit diesem obligatorischen Programmteil soll dem Vorwurf der Boden entzogen werden, der Bundesminister schere sich nicht um die Menschenrechte. Als gelte es, zuletzt noch einmal die Prioritäten klarzustellen, schließt die offizielle Pressemitteilung mit dem lapidaren Satz: "Das deutsch-türkische Handelsvolumen lag 2017 bei 37,6 Mrd. Euro." Wenn das kein schlagendes Argument ist, sich nicht von Nebensächlichkeiten wie Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden, Repression gegen jegliche Opposition, Massenverhaftungen und zahllose vernichtete Existenzen, Gleichschaltung der Medien und vielen weiteren Gewaltakten des Präsidialregimes keinesfalls in die Suppe blühender Kollaboration spucken zu lassen!

Erdogan hat diese Unterstützung bitter nötig, da die dramatische Talfahrt der Landeswährung anhält, bei einer Inflationsrate von 25 Prozent die türkischen Unternehmen ihre Kapitalkraft und die Bürger ihre Kaufkraft einbüßen, und die Wirtschaft in Richtung einer tiefen Rezession abrutscht. Altmaier will seinen Teil dazu beitragen, daß dieses für die Bundesrepublik aus verschiedenen Gründen so wichtige Schwellenland nicht abschmiert: "Das Land war ein zuverlässiger Wachstumsmarkt über die letzten Jahre. Und wir haben ein Interesse daran, dass das so bleibt und an der Südostflanke Europas keine neuen Unsicherheiten oder Instabilität entstehen." Der Unionspolitiker sorgt sich um die Investitionen deutscher Firmen, die teils ein unternehmerisches Risiko trügen, teils über die Instrumente der Außenwirtschaftspolitik wie die Hermes-Kreditbürgschaften abgesichert werden könnten. Die Bundesregierung hatte im vergangenen Jahr die Risikoabdeckung für Ausfuhrgeschäfte deutscher Firmen mit der Türkei in Form von Hermes-Bürgschaften bei 1,5 Milliarden Euro gedeckelt. Nach Angaben aus Regierungskreisen wurde dieser Deckel zwischenzeitlich wieder aufgehoben. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 hat die Bundesregierung Lieferungen und Leistungen in die Türkei in Höhe von 830 Millionen Euro mit Exportgarantien abgesichert. Eine intensive Einzelfallprüfung trage dem "Gesichtspunkt der Risikosteuerung ausreichend Rechnung", hieß es dazu aus dem Haus Altmaiers. [2]

Im Troß des Ministers sind neben Parlamentariern und Fachbeamten Vertreter von Konzernen wie Siemens, Eon, BASF, SAP, Metro, EWE, Enercon, Steag und Thyssenkrupp Marine Systems mitgereist, um Nägel mit Köpfen zu machen. Zur Delegation gehört Siemens-Chef Joe Kaeser, der den dicksten Fisch an Land zu ziehen hofft. Neben Energieprojekten ist die Eisenbahnmodernisierung das mit 35 Milliarden Euro größte Vorhaben auf der Agenda in Ankara. Bislang existiert eine gut 500 Kilometer lange Verbindung zwischen Ankara und Istanbul als Hochgeschwindigkeitsstrecke, die gemeinsam mit Siemens gebaut wurde. Viele andere Strecken sind veraltet, sie stammen ursprünglich aus der legendären Bagdad-Bahn, die der damalige deutsche Kaiser und der Sultan bauen ließen. Kaeser knüpft gewissermaßen an historische Zeiten an, wenn er auf Erdogans Drang nach monumentalen Prestigeprojekten spekuliert und darüber verhandelt, den Aufbau eines modernen Schienennetzes in der Türkei voranzutreiben. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob Deutschland das Projekt über eine Hermes-Bürgschaft absichert oder sogar mit einem staatlichen Kredit kofinanziert. Berührungsängste mit despotischen Regimen kennt Kaeser offenbar nicht, sah er sich doch in den vergangenen Tagen heftiger Kritik ausgesetzt, weil er erst nach tagelangem Zögern seine Teilnahme an der Wirtschaftskonferenz in Saudi-Arabien abgesagt hat. Bezeichnenderweise sehen dieselben Medien, die ihn deswegen empört angegangen sind, in seiner Türkeireise nicht etwa ein identisches Muster, sondern im Gegenteil eine beiläufige Möglichkeit, von der Kontroverse im Kontext der Ermordung des Journalisten Khashoggi abzulenken. [3]

Galt Erdogans Regime noch vor kurzem deutschen Politikern als zu heikel, um sich dort blicken zu lassen, so hat sich der Wind gedreht. Die Bundesregierung beschloß den ohnehin von ihr angestrebten Kurswechsel in der Türkeifrage, zumal der türkische Präsident einige seiner politischen Häftlinge aus Deutschland freigelassen hat. Statt auf die sofortige Freilassung der restlichen Geiseln zu drängen oder gar die Frage Zehntausender politischer Gefangener grundsätzlich zu thematisieren, interpretiert man das taktische Signal aus Ankara wie beabsichtigt als Entspannung und Türöffner. Seit vergangener Woche inszeniert sich Erdogan gar als Ermittler und Chefankläger gegen das Königreich Saudi-Arabien, gibt sich unversehens als Kämpfer für Menschenrechte und Pressefreiheit, mit denen man ihn am allerwenigsten in Verbindung bringen würde.

Wenn deutsche Wirtschaftsvertreter fordern, die Türkei müsse bei Rechtssicherheit, Investorenschutz und der Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank das Vertrauen der Investoren wieder stärken, sind damit handfeste Profitinteressen angesichts heftiger ökonomischer, politischer und sozialer Verwerfungen angesprochen. Deutsche Konzerne hatten bekanntlich nie Probleme damit, ihre Gewinne auch und gerade in Diktaturen und autoritären Regimen einzufahren, wo die Arbeitskraft besonders gnadenlos ausgebeutet wird. Einzige nennenswerte Hürde war die wankelmütige Stimmung der deutschen Medien und Öffentlichkeit, die mitunter solche Fälle aufs Korn nahmen, so daß sich die betreffenden Unternehmen unter Abwägung des geschäftsschädigenden Ansehensverlustes zum taktischen Rückzug und Verlagerung ihrer Aktivitäten in andere kaum weniger prekäre Verhältnisse veranlaßt sahen.

In der Türkei herrschen jedoch selbst aus Sicht deutscher Unternehmen teilweise Verhältnisse, die sie am Sinn ihrer Tätigkeit zweifeln lassen. Nach Auffassung Günter Seuferts, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), trägt die türkische Regierung eine erhebliche Mitverantwortung für die Finanzkrise. Das gelte für die einseitige Kanalisierung öffentlicher Gelder und Kredite in die Bauindustrie, die heute in einer Überproduktions- und Schuldenkrise stecke. Das gelte auch für intransparente Ausschreibungsverfahren, die ein undurchdringliches Profitnetzwerk zwischen Regierungspartei und großen Bauunternehmen geschaffen hätten, das ausländische Investoren abschrecke.

Hinzu kämen hilflose Versuche, die Finanzkrise mittels fragwürdiger Regulierung einzudämmen. So sind alle Firmen und Privatpersonen seit Oktober gezwungen, ihre Verträge mit Zulieferern, Vermietern und lokalen Mitarbeitern in der Landeswährung Lira zu indexieren. Außerdem gilt für sechs Monate, daß Exporteure mit Sitz in der Türkei ihre Exporterlöse nicht etwa auf das deutsche Bankkonto des deutschen Mutterkonzerns transferieren dürfen. Auch müssen die Erlöse zu mindestens 80 Prozent in türkischer Lira indexiert sein. Das stärkt türkische Banken, schwächt aber die ausländischen Exporteure, die sich nun auf eine äußerst volatile Währung stützen müssen. Eine andere Maßnahme sieht vor, daß Unternehmen mit einem Zehn-Prozent-Rabatt werben können, um die Inflation einzudämmen, wobei unklar ist, was das für Firmen bedeutet, die nicht an der Aktion teilnehmen.

Auch hat sich das einstige Paradies deutscher Urlauber in ein Hochrisikoziel verwandelt, was insbesondere für Berufsgruppen wie Menschenrechtler oder Journalisten und für Deutsche mit engen persönlichen Bindungen in die Türkei gilt. Nun weist das Auswärtige Amt darauf hin, daß mit nicht nachvollziehbaren Inhaftierungen auch in den Touristenregionen zu rechnen sei. Man müsse davon ausgehen, daß auch nichtöffentliche Kommentare in sozialen Medien etwa durch anonyme Denunziation an die türkischen Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden. Der konsularische Zugang zu Inhaftierten seitens der deutschen Botschaft werde in einigen Fällen nicht gewährt, weshalb Deutschen zu erhöhter Vorsicht geraten und empfohlen wird, sich in die "Krisenvorsorgeliste der Konsulate und der Botschaft einzutragen", was nicht gerade nach einem entspannten Urlaub klingt. [4]

Wenngleich ein Ende der Finanzkrise in der Türkei nicht absehbar ist, betonen Berliner Regierungskreise, das Land habe nach wie vor die Fähigkeit zu strategischen Investitionen und sei von einer Pleite weit entfernt. Das ist ein Signal, wie es sich Recep Tayyip Erdogan nur wünschen kann. Mit dem deutschen Wirtschaftsminister empfängt die türkische Regierung einen willkommenen Gast, der neben zuversichtlichen Worten auch konkrete Vorschläge im Marschgepäck mitbringt, wie eine Hand die andere wäscht.


Fußnoten:

[1] www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2018/20181025-altmaier-reist-in-tuerkei.html

[2] www.handelsblatt.com/politik/deutschland/altmaier-in-ankara-das-image-der-tuerkei-ist-ein-problem-fuer-deutsche-unternehmen/23226030.html

[3] www.spiegel.de/wirtschaft/tuerkei-peter-altmaier-und-joe-kaeser-werben-fuer-bahnprojekt-a-1234836.html

[4] www.spiegel.de/reise/aktuell/auswaertiges-amt-verschaerft-erneut-reisehinweise-fuer-die-tuerkei-a-1234855.html

25. Oktober 2018


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