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RAUB/1201: Kükenschreddern - eine Mordsentsorgung ... (SB)



Eines Tages blieb sie einfach da und war nicht mehr wegzudenken. Selma, wie die Hühnerdame im typisch rostbraunen Federkleid von da an hieß, gehörte einer tatsächlich freilaufenden, also im Dorf herumstolzierenden Schar von Hühnern und einem Hahn an, die es immer wieder auf die benachbarte Wiese zog, um dort allerhand Essenswertes zu picken. Leider nutzten die Mitglieder der kleinen Schar ihre Schnäbel auch dazu, die soziale Hierarchie der Gruppe zu stabilisieren, die mit dem Begriff der Hackordnung recht zutreffend beschrieben ist. Konkurrenzkämpfe nicht viel anders als unter Menschen, aber doch so schmerzhaft, daß Selma es vorzog, sich ein neues Zuhause zu suchen. So blieb sie des öfteren allein auf der Wiese zurück, bis sie ein Loch im Zaun entdeckte und, selbstbewußt wie sie war, den Asylstatus, ohne weiter zu fragen, in Anspruch nahm.

Die Bäuerin respektierte den Wunsch ihrer Henne nach einem Ortswechsel, und Selma konnte von nun an den Menschen, die bislang noch nicht mit ihresgleichen zusammengelebt hatten, zeigen, wie charakterstark und eigenwillig so eine Hühnerdame sein kann. Sie versäumte keine Gelegenheit, wo sich jemand im Garten niederließ, um ihm Gesellschaft zu leisten, wuselte beim Kaffeetrinken unter dem Tisch herum und pickte schon mal in ein unbekleidetes Bein, was sie besonders zu reizen schien. Das ging noch viele Jahre so, und selbst die Bäuerin wunderte sich über Selmas Langlebigkeit, waren doch alle anderen Mitglieder ihrer Hühnerschar längst verstorben. Von der Notwendigkeit des Eierlegens entbunden konnte sie dennoch nicht damit aufhören, die ihr aufgezwungene Natur eines für den Menschen produktiven Daseins zu vollziehen. Dennoch war die Entlastung von jeglicher Pflicht und dem nächtlichen Einsperren im Hühnerstall offensichtlich so wohltuend, daß sie das Glück eines langen Lebens hatte. Bis zur letzten Stunde nahm sie Kontakt zu ihrer menschlichen Umgebung auf, so daß man sagen könnte, daß sie sich regelrecht von ihrer Familie verabschiedete.

So führte Selma den Menschen, die sie kennenlernen durften, vor Augen, daß auch seit Generationen auf Leistung nach Geflügel-Einheitsnorm gezüchtete Legehennen Verhaltensweisen entwickeln, die als Produkt ihrer Lebensbedingungen und sozialen Umgebung eine unverwechselbare Individualität hervorbringen, zu der selbstverständlich das Verstehen ihres Namens und offenkundig auch anderer für sie wichtiger Begriffe gehört. Schon Küken verfügen über hochentwickelte kognitive Fähigkeiten und sollen bis zu 30 verschiedene ArtgenossInnen voneinander unterscheiden können. Wissenschaftler, die das Sozialverhalten von Hühnern untersuchen, haben Eigenschaften an ihnen entdeckt, die sonst nur bei Primaten anzutreffen sind [1]. Frauen ein "dummes Huhn" zu schimpfen ist daher nicht nur sexistisch, sondern zeigt die ganze Dummheit des patriarchalen Höhenfluges auf, sich für den Herrn der Schöpfung zu halten, dem sich alle zu unterwerfen haben.


Im Schreckenskabinett "vernünftiger Gründe"

Nun sind viele Menschen empört über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, dem Schreddern und Vergasen männlicher Küken jeden "vernünftigen Grund" abzusprechen, den das Tierschutzgesetz zur Maßgabe der Tierverwertung erhoben hat, und den Brütereien die Fortsetzung dieser Praxis dennoch unbefristet zuzugestehen. Geht es um die Verwirklichung profitabler Absichten mit gentechnischen Mitteln, werden mit hoher Intensität in überschaubarer Zeit Ergebnisse erwirtschaftet, wie die Verwandlung seit Jahrtausenden domestizierter Tiere innerhalb weniger Jahrzehnte in Hochleistungskonverter für Fleisch, Milch und Eier belegt. An der Entwicklung eines Verfahrens zur Geschlechtsbestimmung möglichst bald nach der Befruchtung und weit vor dem Schlüpfen der Küken wird schon viele Jahre geforscht, doch da diese Praxis die Eierproduktion als Kostenfaktor belastete, ist das Interesse an der Entwicklung des Verfahrens zur Serienreife offensichtlich gering.

Zwischen der Vernunft, wie sie im Gesetze steht, und der ökonomischen Ratio, die die Tierverwertung beherrscht, besteht kein wirklicher Unterschied, teilt das Urteil auch jenen, die es nicht wissen wollen, mit. Beides ergänzt sich im System der Tierausbeutung aufs Ideale, denn ein Tierschutz, der im besten Fall dafür sorgte, daß männliche Küken nicht mehr geboren würden, verschiebt das Gewaltproblem, anstatt es überwinden. Die Schwestern und Mütter bleiben in einem System gefangen, das ihnen bis zu 300 unter Hochleistungsbedingungen produzierte Eier im Jahr abnötigt, während das asiatische Urhuhn gerade mal 18 Eier im Jahr legte. Wenn Legehennen in hohem Tempo und voller Gier Körner aufpicken, dann werden sie angetrieben vom kalorischen Brand eines Stoffwechsels, innerhalb von wenig mehr als einem Tag ein äußerst gehaltvolles, an Eiweiß, Fett und anderen Nahrungsstoffen reiches Agens zur eigenen Reproduktion in harter, viel Mineralien benötigender Schale zu erzeugen.

Spätestens nach 85 Wochen und einem Leben unter quälenden Haltungsbedingungen werden die Eierproduzentinnen geschlachtet. Das zu den Masthühnern vergleichsweise lange Leben wird dadurch erkauft, für die Ausbeutung ihrer reproduktiven Fähigkeiten mit einem Ende als Suppenhuhn oder ähnlichem gestraft zu werden. Die Nahrung für den eigenen Nachwuchs wird ihnen ebenso weggenommen wie dieser selbst, wachsen die meisten Küken doch unter künstlichen Bedingungen heran, während sie sich in der Naturbrut erst nach acht Wochen von der Mutter entfernen.

Kosteneffizienz in der Tierverwertung heißt Qualzucht und ein unerfreuliches Leben in der drangvollen Enge von Massenställen, die jede Sozialordnung unter Hühnern unmöglich machen, wo die Luft mit Ammoniak gesättigt ist und die Lungen wie Haut der Tiere verätzt, wo unerträglicher Lärm herrscht und das wenige Tageslicht, das gelegentlicher Auslauf bietet, alles andere als einen irgendwie "natürlich" zu nennenden Zustand simuliert. In der Klassengesellschaft der Eierproduktion - Biohaltung, Freilandhaltung, Bodenhaltung, Käfighaltung - leben in Deutschland nur 7 Prozent der rund 50 Millionen Legehennen in der beengtesten Haltungsform, dem Käfig, in dem jedes Huhn nach EU-Norm Platz etwa von anderthalb DIN A 4 Seiten zur Verfügung stehen muß. Fast zwei Drittel aller in Deutschland gehaltenen Legehennen leben in Bodenhaltung, was bedeutet, daß 9 Hühner in Gruppen von bis zu 6000 Tieren mit einem Platzangebot von einem Quadratmeter zurechtkommen müssen.

Entscheidend ist für jede Haltungsform, daß Tieren, die 10 Jahre und älter werden können, im Fall von Legehennen das Ende spätestens nach anderthalb Jahren ereilt und Masthühner nicht älter als sechs Wochen werden. In dieser kurzen Zeit werden die Tiere auf fast drei Kilo Gewicht hochgemästet, was bedeutet, daß ihr dafür nicht ausgelegtes Knochenskelett unter dem Gewicht zusammenbrechen kann. In der nur vier Wochen währenden Kurzmast, bei der die Hähne nur auf 1,5 Kilo Gewicht heranwachsen, dürfen bis zu 26 Tiere auf einem Quadratmeter gehalten werden. Durch die hohe Haltungsdichte werden ganze Ställe mit Antiobiotika geflutet, wenn eine Infektion auftritt, was zur Folge hat, daß die NGO Germanwatch [2] kürzlich antibiotikaresistente Keime auf mehr als jeder zweiten Probe von Hühnerfleisch aus Discount-Supermärkten feststellen mußte. Zum Teil wurden Resistenzen gegen mehrere Antibiotika entdeckt, darunter auch gegen sogenannten Reserveantibiotika, die eingesetzt werden, wenn aufgrund bereits vorhandener Resistenzen kein Antibiotikum mehr hilft.

In US-Tierfabriken werden jedes Jahr rund 180 Millionen Hühner am Haken des Fließbandes zur Schlachtung von den rotierenden Klingen verfehlt, so daß sie als "red birds" lebendig ins brühend heiße Wasser des Entfederungsbades geschleust werden. Das führt laut der eidesstattlichen Erklärung eines Whistleblowers aus der Geflügelindustrie dazu, daß die Tiere wild strampeln und um sich treten, während ihnen die Augäpfel aus dem Schädel springen und sie das Brühbad schließlich mit grotesken Verrenkungen, gebrochenen Knochen und fehlenden Gliedern wieder verlassen [3].


Und immer wieder zurück zum Problem der Tierausbeutung

Es ist müßig, sich Gedanken darüber zu machen, welches Huhn es noch schlechter als andere Hühner getroffen hat. Das Nahrungsmittel Huhn ist ein Produktionsfaktor und in dem Sinne Tier nur mit dem Vorsatz des fremden Nutzens. Küken werden nicht "sinnlos" vergast oder geschreddert, ihr Gebrauchswert besteht darin, das industrielle Ausbrüten von Legehennen zu ermöglichen und parallel dazu Masthühner mit dicken Stücken Brustfleisch zu produzieren, welches das gesundheitsbewußte Marktsubjekt aufgrund seiner angeblich besonders zuträglichen Zusammensetzung dem etwa durch Verdacht auf krebserzeugende Wirkung in Mißkredit geratenen roten Fleisch vorzieht.

Die Forderung verzichtsfrei durchzusetzen, sogenannte Brüderhühner als mit geringerem Fleischergebnis aufzuziehen, anstatt Küken nach der Geburt umzubringen, setzte ein höheres Einkommen der KonsumentInnen voraus. Wer auf der Ebene des kleineren Übels argumentiert, kommt um eine fundamentale Gesellschaftsveränderung ebensowenig herum wie Menschen, die den generellen Verzicht von Fleisch und Eiern propagieren. Als Teil gesellschaftlicher Rentabilitätskalkulationen sind VerbraucherInnen ein Glied in der Kette einer ökonomischen Gesamtkalkulation, die ganz neue Möglichkeiten nur durch einen Systembruch in Richtung Ökosozialismus oder ähnlichem eröffnet. Bis dahin bleibt es dabei - das Problem heißt Tierausbeutung. Sich damit zu konfrontieren ist in jede Richtung produktiver als wenn Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner für Lebensmittelkonzerne wirbt, die Eier anbieten, bei deren Produktion keine männlichen Küken entstehen.


Fußnoten:

[1] https://www.spektrum.de/news/schlaue-huehner/1342910

[2] https://www.germanwatch.org/de/16426

[3] https://www.counterpunch.org/2019/05/09/metal-and-rubber-with-your-chicken-no-problem-says-tyson/

14. Juni 2019


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