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RAUB/1206: Paritätischer Wohlfahrtsverband - Verteilungsgerechtigkeit ... (SB)



Die Einkommenszuwächse in Deutschland sind höchst ungleich verteilt, die Vermögenskonzentration und damit die Spreizung nehmen zu. Die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich gefährdet den sozialen Zusammenhalt massiv. (...) Von einer "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", wie sie das Grundgesetz fordert, sind wir sternenweit entfernt.
Rolf Rosenbrock (Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands) [1]

Deutschland ist ein reiches Land - aber nur für die Reichen, nicht für die Armen. Wie der Wohlstand der Bundesrepublik als ganzes in Relation zu zahllosen schlechter gestellten Volkswirtschaften das Resultat eines langanhaltenden weltweiten Ausplünderungs- und Ausbeutungsprozesses ist, beruht auch das in sich gespaltene Gefüge der deutschen Gesellschaft auf einer Produktion von Abhängigkeit und Verelendung als Grundlage der Hervorbringung von Verfügungsgewalt und Prosperität. Das gleichzeitige Auftreten von wachsendem Reichtum und sich vertiefender Armut ist kein Naturgesetz, Schicksal oder statistisches Phänomen, auch kein Kollateralschaden einer ansonsten bestmöglichen Wirtschaftsweise. Es ist die zwangsläufige Folge von Produktionsverhältnissen in einer Klassengesellschaft, deren innere Widersprüche sich im Zuge eskalierender Krisen verschärfen. Der Sozialstaat als Konstrukt zur Bändigung der daraus resultierenden Zentrifugalkräfte und Befriedung potentiellen Aufbegehrens der Unterworfenen und Entwürdigten fällt angesichts schwindender Mittel, die als gesellschaftlicher Leim zu verteilen wären, dieser Zuspitzung in zunehmendem Maße zum Opfer.

Die vielfach geforderte Verteilungsgerechtigkeit wird es unter diesen Verhältnissen nicht geben. Dessen ungeachtet bleibt hervorzuheben, daß die fortschreitende Eskalation sozialer Spreizung weder unabweislichen Sachzwängen noch Fehlentscheidungen von verantwortlicher Seite geschuldet ist. Sie ist politisch gewollt, woraus folgt, daß sie auch politisch umzukehren wäre, sofern es gelänge, den erforderlichen gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Denn daß Regierungspolitik aufgrund vorliegender Informationen und entsprechender Einsicht zu einer Wende bereit wäre, hat sie seit Jahren beharrlich widerlegt. Wann steter Tropfen den Stein höhlt, ist kaum vorauszusehen, zumal Sozialkämpfe keinem Fahrplan folgen, doch gebietet die Notlage der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen, Rückschläge bei diesen Bemühungen nicht als Scheitern mißzuverstehen.

In seinen Jahresgutachten untersucht der Paritätische Wohlfahrtsverband regelmäßig anhand von amtlichen Daten und der Bundesgesetzgebung, wie es um die soziale Lage und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland bestellt ist. Der Verband warnt in seinem aktuellen Bericht angesichts wachsender sozialer Ungleichheit eindringlich vor einer fortschreitenden Gefährdung des Zusammenhalts. Um dem entgegenzuwirken, fordert er einen Ausbau der sozialen gemeinnützigen Infrastruktur in der Fläche, die Stärkung individueller sozialer Rechte und Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Denn das Bild einer insgesamt guten gesamtwirtschaftlichen Lage werde durch schwerwiegende und ungelöste soziale Probleme erheblich getrübt. [2]

Wie Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands, bei der Vorstellung des Jahresgutachtens in Berlin ausführte, seien die Einkommenszuwächse höchst ungleich verteilt, so daß die Kluft zwischen Arm und Reich weiter wachse. Die gute Beschäftigungsentwicklung könne nicht über die tiefen Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt hinwegtäuschen. Deutschland könne zwar wirtschaftlich auf einige gute Jahre zurückblicken, doch wer davon profitiere, stehe auf einem anderen Blatt. So seien die Einkommen des einkommensstärksten Zehntels der Bevölkerung zwischen 1991 und 2016 real, also kaufkraftbereinigt, um 35 Prozent gewachsen, die des einkommensärmsten Zehntels der Bevölkerung hätten hingegen real um acht Prozent abgenommen. [3]

Hinzu kämen gravierende Defizite in der Infrastruktur, wobei sich extreme regionale Ungleichheiten zeigten. Statt kurzer Wege für ein gutes Leben für alle überall fehle es in vielen Regionen an adäquater Infrastruktur und Grundversorgung. Die Bundesregierung habe im vergangenen Jahr durchaus einige Gesetze auf den Weg gebracht, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Zu nennen seien hier die Lohnzuschüsse für Langzeitarbeitslose im Rahmen des Teilhabechancengesetzes oder die staatliche Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen in Unternehmen. Man müsse jedoch kritisieren, daß die Vorhaben meist zu rigide in den Voraussetzungen beziehungsweise viel zu klein dimensioniert seien. Weiter weist der Paritätische Gesamtverband in seinem Gutachten darauf hin, daß die bestehenden sozialen Sicherungssysteme erodierten und zunehmend ihre Funktionsfähigkeit verlören. Insgesamt gesehen griffen die sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung zu kurz und erreichten in vielen Fällen nur einen Bruchteil der betroffenen Zielgruppen.

Daher sei der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet - durch Spaltung zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Ost und West, zwischen abgehängten und florierenden Regionen, zwischen den Geschlechtern, zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Auch Prozesse wie das Erstarken des Rechtsextremismus sind dem Gutachten zufolge sozial und wirtschaftlich grundiert.

Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern fordert der Wohlfahrtsverband eine neue "soziale Sicherheitspolitik", verstanden als Politik der sozialen Sicherheit und für den sozialen Zusammenhalt. Bausteine dieser Strategie sind aus Sicht des Paritätischen erstens eine existenzsichernde Kindergrundsicherung, zweitens höhere Leistungen für junge Menschen in Ausbildung und Studium sowie drittens ein Mindestlohn, der auch im Alter vor Armut schützt, also deutlich oberhalb von zwölf Euro liegt. Grundsätzlich seien höhere Leistungen in zahlreichen Feldern nötig. Erforderlich seien Reformen bei den Grundsicherungsleistungen wie auch der Arbeitslosen-, Renten- und Pflegeversicherung. Darüber hinaus gelte es, die soziale Infrastruktur auszubauen, wobei die Gemeinnützigkeit Vorrang haben müsse: "Es gibt Bereiche, in denen haben Profitinteressen nichts verloren", so Rosenbrock. Am aktuellen Beispiel der Wohnungspolitik zeige sich der akute Handlungsbedarf. Was gemeinnützige und zivilgesellschaftliche Organisationen selbstorganisiert und ohne Gewinnausschüttungen schaffen können, müsse wieder Vorrang vor privaten Renditeinteressen oder staatlicher Regulierung bekommen.

Wenngleich der Verband in seinem Gutachten keine Berechnungen über den finanziellen Aufwand und die Gegenfinanzierung vorgelegt hat, zumal das ja auch nicht seine Aufgabe ist, verweist er doch auf eine Zahl aus dem Jahr 2014, als 45 Milliarden Euro als erforderliche Gesamtsumme für alle gebotenen Maßnahmen veranschlagt wurden. Laut Rosenbrock ist das nicht so kompliziert zu bewältigen wie zumeist behauptet. Allein die aktuellen Vorschläge zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer von seiten der SPD sollen auf 10 bis 15 Milliarden Euro Mehreinkünfte der Bundesländer hinauslaufen. Die Einkommenssteuer sei unter Bundeskanzler Helmut Kohl von 56 auf 53 Prozent gesenkt und in der Folge noch weiter reduziert worden, so daß sie heute bei nur noch 42 Prozent liege. Auch würden in Deutschland 400 Milliarden Euro jährlich vererbt, während die Erbschaftssteuer im unteren einstelligen Bereich angesiedelt sei.

Zur Finanzierung der "sozialen Sicherheitspolitik" sei ein steuerpolitischer Kurswechsel erforderlich, wofür die von den Sozialdemokraten ins Gespräch gebrachte Vermögenssteuer allenfalls ein erster Schritt sein könne. Der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands deutet darüber hinaus an, mit welchen Parteien diese Forderungen seines Erachtens eher nicht umsetzbar seien. Er bezweifelt, daß dies mit der großen Koalition machbar wäre, und stellt klar, daß auch von einer schwarz-gelben Konstellation nichts anderes zu erwarten sei.

Was nicht allein der Paritätische Gesamtverband vorschlägt, liegt auf der Hand. Gefordert ist eine Umkehrung des Konzentrationsprozesses von Reichtum in immer weniger Händen, verfügen doch nach Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) inzwischen die 45 reichsten Familien im Land über so viel Vermögen wie die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Formuliert man dieses Mißverhältnis als Frage mangelnder Verteilungsgerechtigkeit, lassen sich zahlreiche Gründe anführen, die eine Kurskorrektur geboten erscheinen lassen - zumindest aus Perspektive all jener Menschen, die massenhaft am kürzeren Hebel sitzen. Spitzt man die Disparität darüber hinaus auf das Kernproblem zu, daß Armut und Reichtum nicht nur nebeneinander existieren, sondern sich Wohlstand aus der Not speist, in die andere getrieben werden, könnte das den Blick dafür öffnen, mit welch massivem und unmittelbarem gesellschaftlichem Raubverhältnis man es zu tun hat.


Fußnoten:

[1] www.der-paritaetische.de/presse/paritaetisches-jahresgutachten-verband-konstatiert-wachsende-soziale-ungleichheit-und-fordert-neue-s/

[2] www.jungewelt.de/artikel/361777.armut-sozialstaat-verliert-funktionsfähigkeit.html

[3] www.deutschlandfunk.de/jahresgutachten-paritaetischer-beklagt-wachsende-soziale.1766.de.html

30. August 2019


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