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REPRESSION/1357: Sozialkontrolle leicht gemacht ... die Überwachten überwachen sich selbst (SB)



Als Produzent elaborierter Sozialkontrolle und Labor für die gesellschaftliche Transformation zum totalen Sicherheitsstaat bleibt Britannien Marktführer. Schon unterhalb der Schwelle konventioneller Ansätze der Überwachung, Verfolgung und Bestrafung wird mit dem im April 2007 entwickelten Programm "Preventing violent extremism" (PVE) auf den Menschen als solchen zugegriffen. Unter der Prämisse der präventiven Bekämpfung des Terrorismus wurde ein gemeindezentrierter Ansatz entwickelt, mit der insbesondere die muslimische Bevölkerung des Landes einer angeblich selbstregulativen Form der gegenseitigen Überwachung und gemeinsamen Ausrichtung auf die Werte der britischen Zivilgesellschaft ausgesetzt wird.

Allerdings hat die britische Tageszeitung The Guardian am 16. Oktober in mehreren Beiträgen berichtet, daß es sich dabei nicht nur um ein Modell der Gesinnungskonditionierung handelt, sondern daß den Sicherheitsbehörden auf diesem Wege zahlreiche Informationen über muslimische Bürger zugänglich gemacht werden. Um dies zu erzwingen, wird die Mittelvergabe an soziale Einrichtungen mitunter daran gekoppelt, daß diese Angaben über ihre Klienten an die Sicherheitsbehörden weitergeben. Zweckdienliche Angaben zur Person werden allerdings auch von Lehrern weitergegeben, die Schüler extremistischer Ansichten verdächtigen. Als besonders eklatant gilt der Fall eines neunjährigen Jungen, der den Behörden als extremismusverdächtig gemeldet wurde, um von diesen "deprogrammiert" zu werden.

In einer Stadt wurden den Behörden mindestens 80 Personen gemeldet, weil sie "Anzeichen von Extremismus" aufwiesen. Was auch immer mit diesem Begriff stigmatisiert wird, hat die demokratische Existenzberechtigung einer politischen oder weltanschaulichen Position verwirkt. Weit vor dem Begehen einer eventuellen Straftat wird so regelrechte Gedankenkontrolle ausgeübt. Für diese braucht man keine neurowissenschaftliche HighTech-Ausstattung oder auch nur einen Lügendetektor, es reicht aus, mißliebige Gedanken und damit die Sprache selbst zu kriminalisieren.

Wer als extremismusaffin auffällt, wird an das sogenannte Channel-Projekt überstellt. Dort kümmern sich laut Angabe der britischen Regierung Experten diverser Behörden unter Einbeziehung der Polizei darum, "daß Einzelpersonen und Gruppen identifiziert werden, die dem Risiko ausgesetzt sind, in gewalttätigen Extremismus hineingezogen zu werden; daß Art und Ausmaß dieses Risikos bewertet werden; daß die Fälle an ein Multibehördengremium überstellt werden, das auf die Bedürfnisse der Person zugeschnittene Interventionen einsetzt, um das Risiko zu eliminieren, zu reduzieren oder zu managen".

Angeblich, so die Aussage auf der Webseite von "IDeA: Improvement and Development Agency for local government", geht es dabei nicht darum, die Betroffenen auszuspionieren. Viel mehr sollen die Kommunen eng mit der Polizei zusammenarbeiten, um "verletzliche Personen zu identifizieren und die Kommunen zu befähigen, stärker und abwehrbereiter gegen gewalttätige Extremisten zu werden".

Indem unterstellt wird, es ginge lediglich darum, leicht zu manipulierende Personen davor zu schützen, von Terroristen vereinnahmt zu werden, hat man eine Sprachregelung gewählt, die den Feind zugleich aus- und einschließt. Indem man ihn außerhalb der Gemeinschaft der guten Bürger verortet, kann sein Eindringen um so wirksamer anhand der Merkmale bekämpft werden, die die Unvereinbarkeit zwischen Vergesellschaftung und Selbstbestimmung markieren. Der Begriff des "Extremismus" fungiert als Chiffre für einen Symptomenkomplex, der wesentlich daran kenntlich gemacht wird, daß man nicht das gleiche wie alle anderen denkt und tut.

Das führt im Einzelfall dann dazu, daß ein Sozialarbeiter für Jugendliche, der diese Zusammenarbeit verweigert, mit irreführenden Angaben bei der Polizei als mutmaßlicher Extremist denunziert wird. Sich der Sozialkontrolle zu verweigern zieht den Extremismusverdacht fast zwingend nach sich. Das von dem beim britischen Innenministerium angesiedelten Office for Security and Counter Terrorism (OSCT) geführte, kurz "Prevent" genannte Programm erinnert nicht von ungefähr an das berüchtigte Blockwartsystem, mit dem im NS-Staat versucht wurde, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten.

So präsentiert der Guardian den Inhalt einer "Informationsübereinkunft" (information sharing agreement - ISA) zwischen dem im Norden Londons gelegenen Bezirk Islington und der Londoner Polizeibehörde Metropolitan Police. Daraus geht hervor, daß die an die Sicherheitsbehörden übermittelten Daten Angaben zur ethnischen Herkunft und zum religiösen Bekenntnis, zu den politischen Ansichten, zur körperlichen und geistigen Gesundheit, zur sexuellen Orientierung, zu mutmaßlichen und tatsächlichen Rechtsverstößen, zum familiären Hintergrund, zum erlittenen Mißbrauch, zum Lebensstil und dem weiteren sozialen Umfeld einer Person umfassen können. Sollte dies nicht ausreichen, dann muß jede Information bereitgestellt werden, die die Polizei verlangt. Diese Angaben sollen ohne Einwilligung der betroffenen Person weitergegeben und auch außerhalb Britanniens an die Behörden anderer EU-Staaten übermittelt werden. Geben diese Informationen Anlaß zu einer "dem Schutz der Öffentlichkeit" gewidmeten behördlichen Maßnahme, dann sollen sie aufbewahrt werden, bis die Person vermutlich 100 Jahre alt geworden ist.

Die langfristige Perspektive der Informationsverwaltung und die mögliche Weitergabe detaillierter Angaben über völlig unbescholtene Personen an die Behörden anderer EU-Staaten läßt ahnen, daß man es mit einer gut entwickelten Matrix allgemeiner, im EU-Maßstab zu generalisierender Sozialkontrolle zu tun hat. Die Einbindung der Kommunen in das Prevent-Programm dokumentiert den Versuch, die ganze Gesellschaft an Herrschaftspraktiken teilhaben zu lassen, die unter dem Vorwand des Opferschutzes humanisiert und desto weniger als Ausdruck obrigkeitsstaatlicher Autorität sichtbar werden. Partizipation und Observation fallen in eins, um die Orwellsche Dystopie der ungeteilten Zustimmung zur eigenen Entmündigung zu verwirklichen.

Die Ausweitung dieses Ansatzes auf andere angebliche Staatsfeinde ist nur eine Frage der Zeit und deutet sich etwa in dem nurmehr "Preventing Extremism" überschriebenen Vorhaben der britischen Konservativen an, jeden ins Visier zu nehmen, der beispielsweise den bewaffneten Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzungsmacht gutheißt oder der nicht bereit ist, die Tötung britischer Soldaten durch Besatzungsgegner im Irak und in Afghanistan zu verurteilen. Gesinnungsparameter dieser Art lassen sich hervorragend dazu verwenden, mit Hilfe der Pathologisierung mißliebiger Gesinnungen ideologische Gleichschaltung zu erzwingen und diese als Produkt einer demokratischen Gesellschaft darzustellen.

20. Oktober 2009