Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1399: Grundrechte der Roma im Schatten kapitalistischer Vollzugslogik (SB)



Als ein Ablenkungsmanöver großen Stils darf der Streit um den indirekten Vergleich bezeichnet werden, den die EU-Justizkommissarin Viviane Reding zur Abschiebung in Frankreich lebender Roma mit den Deportationen der Nazis im Zweiten Weltkrieg gezogen hat. Ihre Äußerung, sie habe nicht gedacht, so etwas nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa noch einmal miterleben zu müssen, kann nur in böswilliger Absicht als unzulässige Kritik am Vorgehen der französischen Regierung gegen die ethnische Minderheit der Roma betrachtet werden. Nachdem ruchbar geworden ist, daß der Büroleiter des Innenministers Brice Hortefeux die Anweisung zur systematischen Zerstörung illegaler Lager ausdrücklich auf die Roma gemünzt hatte, obwohl französische Regierungsmitglieder bei einem Treffen mit der EU-Kommissarin ausdrücklich erklärt hatten, daß sich diese Aktion nicht gegen eine bestimmte Gruppe richte, hat Reding allen Grund, ihren Eingriff in die Politik der Regierung Sarkozy mit drastischer Rhetorik zu versehen.

Schließlich hat sie nicht behauptet, daß es Paris um die Vernichtung der Roma gehe, die vom NS-Regime systematisch eliminiert wurden und bis zu 500.000 Opfer zu beklagen haben. Eingedenk der daraus erwachsenen Lektion für die sogenannte europäische Wertegemeinschaft stehen offizielle Anordnungen von EU-Regierungen, die repressive Maßnahmen gegen eine bestimmte, ethnisch und sozial stigmatisierte Gruppe der Bevölkerung betreffen, unausweichlich im Schatten dieser historischen Erblast. Eine entsprechende Anweisung, die gegen in Frankreich lebende Juden gerichtet wäre, würde selbstverständlich in diesen Kontext gestellt werden, warum also nicht auch im Falle der Roma. Die Zerstörung von Roma-Lagern mit Bulldozern und die nicht immer mit Geldzuweisungen, sondern auch mit Gewalt erwirkte Abschiebung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner nach Rumänien oder Bulgarien ist eine Vertreibungsmaßnahme, die sich gegen Menschen richtet, die aufgrund ihres unterprivilegierten Status so gut wie keine Möglichkeit besitzen, sich dagegen zu wehren.

Das Problem der Durchsetzung der EU-Richtlinie zur Freizügigkeit gegen die Regierung eines Mitgliedstaats liegt weniger darin, daß die EU-Kommission sich als Hüterin der Verträge reichlich spät hat einfallen lassen, diese auch einmal gegen eine einflußreichere EU-Regierung wie die Frankreichs durchzusetzen. Es besteht vor allem in der Beschränkung des Brüssler Eintretens für die Rechte der Roma im Innern der EU, während die gegen Migranten und Flüchtlinge gerichtete Politik der Union frei von jeglicher Kritik mit menschenverachtender Konsequenz vollzogen wird.

So basiert der Anspruch der EU-Bürger auf freien Personenverkehr im Unionsgebiet auf der neoliberalen Verfaßtheit der EU, die dieses Recht weniger aus emanzipatorischen denn ökonomischen Gründen im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt. Die Mobilität der Lohnarbeit ist ein kostensenkender Faktor unternehmerischer Rentabilität, dementsprechend endet der Aufenthalt in einem anderen EU-Staat, wie die Regierung Sarkozy geltend macht, nach drei Monaten, wenn die jeweilige Person keine Arbeit nachweisen kann, wenn sie die Existenzsicherung ihrer Familie nicht belegen kann und wenn sie über keine Krankenversicherung verfügt. Diese Zweckbindung der Freizügigkeit der Bewegung richtet sich gegen alle Personen, die innerhalb der EU aus anderen Gründen das Land wechseln als dem, dort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Roma sind innerhalb der gesamten Union rassistischer Diskriminierung in mehr oder minder schwerer Form ausgesetzt. Sie haben also zusätzlich zu ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten konkrete Gründe dafür, nicht in Herkunftsländern leben zu wollen, in denen sie massiver Benachteiligung ausgesetzt sind. Ihnen dieses Recht vorzuenthalten macht sie zu Opfern von Ausgrenzungsprozessen, die im Falle der Migration außereuropäischer Menschen in die EU längst die Form eines nach Verwendungsfähigkeit, Herkunft und Einreisemodalität differenzierten Repressionsregimes angenommen hat. Die vermeintlich humanistischen Werte, die sich die EU-Kommission in diesem Fall auf die Fahnen schreibt, reduzieren sich bei der Einwanderungspolitik auf die Rechtfertigung eines Migrationsmanagements, das bereits weit vor den EU-Grenzen mit der Errichtung von Auffanglagern in Nordafrika greift und als Argument zur Verhinderung von Flüchtlingsströmen militärische Interventionen legitimiert.

Der repressive Umgang mit Menschen, die aufgrund ihrer nichterfolgten Anerkennung als Flüchtlinge für illegal erklärt werden, resultiert denn auch aus einem sicherheitsstaatlichen Handlungsbedarf, der sich mit der Etablierung informationstechnischer Überwachungssysteme wie das Schengener Informationssystem und erweiterten Kontrollbefugnissen der Sicherheitsorgane direkt gegen die EU-Bürger richtet. Während EU-Regierungen wie die Frankreichs und Italiens das Aufkommen von Pogromstimmung gegen ethnische Minderheiten begünstigen, um vom Klassencharakter ihrer gegen materiell benachteiligte Bürger gerichteten Politik abzulenken, etablieren sie System der Kontrolle und Überwachung, die keineswegs nur gegen Migrantinnen und Migranten oder ethnische Minderheiten wie die Roma gerichtet sind.

Daß EU-Politiker wie der rumänische Präsident Traian Basescu oder der EU-Abgeordnete Elmar Brok integrationspolitischen Handlungsbedarf hinsichtlich der nomadisierenden Lebensform eines Teils der europäischen Roma reklamieren, macht vollends deutlich, daß es sich beim werteorientierten Charakter der Personenfreizügigkeit um ein probates Legitimationsmittel zur Zurichtung der EU-Bürger auf das soziokulturelle Normalmaß herrschaftstechnischer Verfügbarkeit handelt. Nichtseßhaftigkeit, wie sie etwa auch von den aus der Hippiekultur hervorgegangenen Travellers auf den britischen Inseln bevorzugt wird, soll als legitime Lebensform eliminiert werden, um den verwertungs- und repressionstechnischen Erfordernissen der integrierten Arbeitsgesellschaft zu entsprechen.

Das dahinter stehende Menschenbild will von Autonomie und Emanzipation nichts wissen, es ist Ausdruck des technokratischen Vollzugs herrschender Verhältnisse. Seine Verallgemeinerung im sozialrassistischen Ressentiment gegen "unproduktive", von Transferleistungen abhängige Menschen mag bislang ethnisch-religiös maskiert daherkommen. Die Stoßrichtung gegen alles nicht verwertungstaugliche Leben bleibt davon unberührt. Schon im NS-Staat wurden "Ballastexistenzen" nicht nur aufgrund von medizinischen oder rassistischen Kriterien zur Belastung für den produktiv integrierten Volkskörper erklärt. Die erbbiologische Selektion betraf auch "asoziale" und "querulatorische" Elemente, die sich nicht an die herrschende gesellschaftliche Norm anpassen wollten. Von daher sollte im Kampf gegen die salonfähig gewordene Verächtlichkeit der Eliten nicht vergessen werden, die soziale Konfrontation herauszuarbeiten, die auch im Falle der Roma der maßgebliche Triebfaktor ihrer Diskriminierung ist.

16. September 2010