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REPRESSION/1432: Nach den Riots ... Gewalt anprangern, sozialen Widerstand denunzieren (SB)



Zwar hat die Bundesregierung die sozialen Unruhen in London sogleich dazu benutzt, um Forderungen nach einer besseren Kontrolle des Internets bis hin zur Aufhebung der Anonymität zu erheben. Ansonsten jedoch legte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich atypische Gelassenheit an den Tag. Er sehe derzeit keine Anzeichen dafür, daß es in deutschen Großstädten zu Jugendkrawallen wie in England kommen kann, sei doch die soziale Integration in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren sehr gut vorangekommen, lobte der CSU-Politiker die von ihm verwaltete Institution forcierter Anpassung. Das hielt ihn zwar nicht davon ab, wie schon zu seinem Einstand als Minister unter Verweis auf eine vom Islam ausgehende Bedrohung zu unterstellen, doch im Großen und Ganzen bemühte sich Friedrich darum, Fragen nach möglichen politischen Konsequenzen aus der Entwicklung in Britannien aus dem Weg zu gehen.

Da der Ausbau des Sicherheitsstaats unter der Maxime, daß man nicht genug Repression ausüben kann, um die herrschende Klassen- und Eigentumsordnung gegen die Habenichtse abzuschotten, zweite Natur der damit befaßten Politiker zu sein scheint, wirkt diese Zurückhaltung wie das Pfeifen im Wald. Warum schlafende Hunde wecken, wenn die Revolten in Frankreich, Griechenland und Britannien doch bewiesen haben, daß der soziale Aufstand jederzeit losbrechen kann? Schon im April 2009 traten die damalige SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, Gesine Schwan, und DGB-Chef Michael Sommer eine Debatte um die Gefahr sozialer Unruhen los, die zu unterdrücken des heftigen Gegenruderns führender Politiker aller bürgerlicher Parteien bedurfte. Der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Franz Hörmann bewies im Oktober 2010, als er den Aufbruch in eine neue Gesellschaftsordnung oder das umfassende Scheitern der Menschheit anhand der Diagnose "Wir haben nämlich massenhaft ökologische und soziale Probleme, in vielen Ländern stehen wir kurz vor der Revolution" [1] mit einem Zeithorizont von drei Jahren versah, hingegen eine prognostische Hellsichtigkeit, die Politikern von den Interessen, die sie treiben, ausgetrieben wird.

Die in London auf die Tagesordnung der westlichen Metropolengesellschaften gehobene soziale Frage selbst ist es, die, wenn nicht ganz unterdrückt, dann an die dafür zuständigen Sozialingenieure und Bevölkerungsplaner delegiert werden soll. Was die britischen Jugendlichen in der rohen ungestalten Sprache unvermittelter Wut und lange unterdrückten Begehrens artikulierten, soll keinesfalls ins Stadium des organisierten politischen Widerstands treten. Das zu verhindern ist der ganze Zweck der Übung, die gewalttätigen Riots der britischen Jugendlichen als hintergrundsloses Phänomen purer Lust am Plündern und Zerstören darzustellen.

"Sie haben nichts, wogegen sie protestieren. Es gibt keine irgendwie geartete Ungerechtigkeit. Und es gibt keinen Zündfunken, der das ausgelöst hat. Es ist sinnlose Gewalt und Kriminalität in einem Maß, das ich in meiner Karriere niemals zuvor erlebt habe." [2]

Auch wenn nicht alle Politiker und Journalisten das Abstreiten jeglicher Verantwortung so ignorant betreiben wie dieser hochrangige britische Polizeioffizier, so beherrscht der Versuch, von der konstitutiven Gewalt kapitalistischer Vergesellschaftung abzulenken, die Debatte in bürgerlichen Medien und Parlamenten. Die Riots als Symptom einer nicht nur höchst ungerechten, sondern den Menschen in sozialdarwinistischer Konkurrenz atomisierenden Verwertungsordnung zu verstehen könnte Überlegungen provozieren, die bis an die Systemfrage reichen. Gerade weil sich die britischen Jugendlichen nicht der dafür vorgesehenen, zivilgesellschaftlich bis zur Harmlosigkeit moderierten Formen des Protestes bedienten, sondern die alltäglich erlebte Entwürdigung mit der Zerstörungsgewalt eines Homo oeconomicus, der nicht einmal ein Rädchen in der großen Maschine sein darf, quittierten, haben sie die soziale Frage mit neuer Dringlichkeit gestellt.

Indem die Jugendlichen - opportunistische Trittbrettfahrer, die die Gelegenheit zum Begleichen offener Rechnungen beim Schopfe packten, nicht zu vergessen - nicht nur die Symbole kapitalistischer Herrschaft etwa in Form der Niederlassungen großer Konzerne angriffen, sondern kleine Geschäfte verwüsteten, Wohnhäuser anzündeten und vom gleichen desolaten Schicksal wie sie geschlagene Mitmenschen attackierten und ausraubten, demonstrierten sie das antagonistische Verhältnis, an der herrschenden Ordnung nicht teilhaben zu können, um den Symbolen ihres Reichtums und der Praxis ihrer Gewalt um so intensiver zu frönen.

So ist keinesfalls auszuschließen, daß der eine oder die andere nicht als SoldatIn des Empire höchste Meriten erworben hätte, wenn die gleiche Zerstörungsgewalt, die mit Knast abgestraft wird, in Afghanistan oder im Irak blutige Ernte gehalten hätte. Was die britischen Streitkräfte in den Zonen neokolonialistischer Herrschaft von Nordirland bis Libyen mit legalistischer Selbstverständlichkeit zum Ruhme von Königin und Nation in Schutt und Asche legten, findet seine Entsprechung in den Riots sogenannter Subalterner, die nicht selten den Trümmern des britischen Weltreiches entstammen. Rassistische Polizeibrutalität fungierte nicht umsonst als Initialzündung einer Revolte, deren Flächenbrand bürgerliche Ängste um den aus ganz anderen Gründen in Frage gestellten Erhalt des Sozialstatus auslöste.

Die gesellschaftliche Relevanz des Aufbegehrens britischer Jugendlicher ist zu groß, als daß ernsthaft auf sie eingegangen werden dürfte. Man bedient sich der Denunziation jugendlicher Gewalt über ihre selbstredende Inakzeptanz hinaus, um eine soziale Pathologie zu unterstellen, die mit Workfare, Sozialarbeit, Internetpranger, Boot Camp, Anti-Social Behaviour Order und einer bürgerkriegsartigen Aufrüstung der Staatsgewalt in den Griff zu nehmen sei. Hier korrespondiert die vielbeklagte Untätigkeit der Polizei mit dem neoliberalen Laissez-faire, die Armut gegen das von ihr geschlagene Subproletariat zu wenden. Unter dem Eindruck des Geschehenen kann der autoritäre Maßnahmestaat vollziehen, was im Vorwege nicht so leicht zu legitimieren wäre.

Von daher läuft die Entwarnung des Bundesinnenministers auf den strategischen Winkelzug hinaus, Handlungsbedarf erst zu reklamieren, wenn sich die Option der Repression ungeteilter Zustimmung erfreut. Man hält sich schadlos an den Geistern, die man rief, indem man den überflüssig gemachten Menschen eine Waffe an die Hand gibt, die sie gegen den "Feind" des Tages richten - muslimische Terroristen, militante Tierbefreier, kommunistische Revolutionäre, Welfare Queens, Sozialschmarotzer, Kinderschänder und was die Schreckensmythologie des permanenten Ausnahmezustands noch an hassenswerten Zerrbildern produziert - und der sie selbst erliegen, weil die Feindseligkeit der sozialen Konkurrenz die kleinste Zelle kollektiver Handlungsfähigkeit penetriert hat. Geschlecht und Familie, Schule und Beruf, Politik und Kultur sind von der Gewalt des Unterliegens und Überbietens, der Anpassung und des Unterwerfens so sehr bestimmt, daß deren blindwütiges Ausagieren weit bequemer ist als die Einseitigkeit und Konsequenz einer Position, die sie bestreitet.

Entscheidend dafür, daß die Rechnung des Teilens und Herrschens aufgeht, ist die fortdauernde Verneblung des Denkens durch die ideologischen und kulturindustriellen Primate eigener Verfügbarkeit. Wo das Rauben und Zerstören der Symbole kapitalistischer Produktivität tiefe Affinität zur eigenen Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit verrät, da öffnet sich auch die Möglichkeit der Überwindung fremdbestimmter Verhältnisse. Die britischen Riots als menschenfeindliche Destruktivität zu verdammen ist die einfache Antwort einer bürgerlichen Selbstvergewisserung, die sich die eigene Teilhaberschaft an einer Millionen Menschen materiellem Elend und einem frühen Tod überantwortenden Verwertungsordnung nicht eingestehen will. Die daraus entspringende Moral sorgt dafür, den anderen Menschen stets weit genug auf Distanz zu halten, um ja nicht in die Nähe einer Klassen und Herkunft überschreitenden Gemeinsamkeit zu geraten und womöglich zusammen kämpfen zu wollen.

Fußnoten:

[1] http://derstandard.at/1285200656759/derStandardat-Interview-Banken-erfinden-Geld-aus-Luft

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1527162/

12. August 2011