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REPRESSION/1449: Feindbildprojektion - Ohne Extremismus keine politische Mitte (SB)



Bundeskanzlerin Merkel mahnte im Bundestag eine Einheit der Demokraten an, die immer dann zur Sprache kommt, wenn es darum geht, abweichende und oppositionelle Stimmen verstummen zu lassen. Man solle sich den Vorwurf ersparen, auf irgendeinem Auge blind zu sein, verlangte sie in Hinsicht auf die Kritik der Opposition, die Bundesregierung setze auf unzulässige Weise Links- und Rechtsextremismus gleich. Dabei fängt das Problem nicht erst bei der Gewichtung der jeweils als extremistisch verworfenen Einstellungen an. Die Totalitarismustheorie von der prinzipiellen Gleichartigkeit linker und rechter Radikalität ist Auswurf einer politischen Topographie, die bestimmte Gesinnungen aus der Sicht der großen Mehrheit als gefährlich für Freiheit und Demokratie brandmarkt. So lassen sich alle Entscheidungen und Ergebnisse der Verfassungsorgane als vom Willen der Mehrheit gedecktes Interesse an einem gesellschaftlichen Frieden darstellen, der als ausschließender Gegensatz zum Krieg lediglich denjenigen einleuchtet, die ihren Vorteil in den herrschenden Verhältnissen erkennen.

Es handelt sich bei allen Anstrengungen, diese Mitte im Wertekodex des Grundgesetzes, des Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verankern, um ein der politischen Wetterlage und dem globalen Krisengeschehen unterworfenes Konstrukt von frei flottierender Art. So erleben Afghaninnen, die um das Leben ihrer Kinder nicht nur fürchten müssen, weil sie hungern und medizinisch unterversorgt sind, sondern auch von Angriffen der NATO bedroht sind, den Frieden der westlichen Werteordnung als einen Krieg, für den sie nichts können und den sie sich nicht gewünscht haben. Gleiches gilt für alle Menschen, deren desolate soziale Lage direkt oder mittelbar denjenigen Kapitalinteressen geschuldet ist, die sich als generöse und humane Agenturen der gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsproduktion präsentieren. In den USA, die nach wie vor als Leuchtfeuer demokratischer Freiheit gelten, werden zahlreiche Menschen unter entwürdigendsten Bedingungen in Knästen gehalten, während Millionen andere in der Hauslosigkeit der Armut frieren, hungern und Schmerzen erleiden.

All das und vieles mehr, was als unvereinbar mit diesem Wertekodex begriffen werden müßte, wird unter dem Schirm seiner Legalität dennoch vollzogen. Die politische Mitte nimmt qualitative Wertnormen unter der Bedingung in Anspruch, daß ihnen mit der Behauptung, sie zu verteidigen, zuwidergehandelt wird oder daß sie im Ernstfall per Dekret aufgehoben werden. Wer dagegen aufbegehrt läuft Gefahr, selbst unter die Räder einer exekutiven Gewalt zu geraten, die im Widerstreit mit ihrer inhärenten Wertebindung zu autoritärer Ermächtigung neigt. Legalistisch verankert ist diese im Notstandsrecht, doch gibt es zahlreiche Grauzonen des Übergangs zwischen regulärer Rechtspraxis in Friedenszeiten und deren Aufhebung im Kriegsfall. Krieg und Frieden sind ineinander verwobene Muster derselben Staatsräson, behält sich die Exekutive doch vor, weder das eine zu erklären noch das andere aufzukündigen. Politisches Handlungsvermögen bemißt sich auch daran, inwiefern der Rahmen legitimierter Gewalt auf die jeweilige Interessenlage angepaßt werden kann, um administrative Kompetenzen zu erwirtschaften, die, wie die in staatlichem Auftrag erfolgte Folterung sogenannter Terrorverdächtiger exemplarisch belegt, prinzipiell mit bürgerlichen Freiheits- und Grundrechten unvereinbar sind.

Regierungspraktiken demokratischer Staaten wie extralegale Hinrichtungen, völkerrechtswidrige Aggressionsakte, eine mundtot machende Gesinnungsjustiz, die Ausbeutung ökonomischer Not durch bürgerrechtswidrige Formen des Zwanges und der Kontrolle, die massive Bevorteilung kapitalistischer Partikularinteressen bei wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen oder Veränderungen der staatlichen Verfaßtheit ohne Einbeziehung des offiziellen Souveräns etwa im Rahmen der europäischen Integration stellen mehr in Frage als die Legitimität der dies verfügenden Exekutive und absichernden Judikative. Indem offenkundige Widersprüche staatlichen Handelns durch administrative Sonderrechte oder eine willfährige Justiz unaufgelöst bleiben, wird das demokratische Verfahren in seiner Glaubwürdigkeit unterminiert, so daß Regression oder Widerstand die Stabilität der Gesellschaft erodieren. Diese zu sichern ist, und sei es nur im Sinne eines Standortvorteils, wesentliches Ziel des Regierens.

Anstatt der Irregularität eigenen Handelns Rechnung zu tragen, werden mit dem Etikett des Extremismus Abweichungen markiert, an die die Gefahren, die im Bruch von rechtlicher Norm und politischer Praxis wurzeln, adressiert werden können. Da es sich um ein Mittel der Prävention handelt, es also an strafrechtlicher Relevanz mangelt, wird die unterstellte Bedrohung mit der Stigmatisierung der verwerflichen Gesinnung bekämpft. Daß dies im Falle rechter Gewalt nur sehr bedingt geschah, während kleinste Indizien für sogenannten islamistischen und linken Terrorismus einen inflationären Aktionismus des Sicherheitsstaates auslösten, hat zur Folge, daß der nun demonstrativ angeprangerte Rechtsterrorismus zu einer weiteren Verschärfung staatlicher Repression Anlaß gibt, während die Zuständigkeit des regulären Strafrechts immer weniger bedacht wird. Da die konventionelle Strafverfolgung für die Bekämpfung des sogenannten Terrorverdächtigen angeblich nicht ausreicht, weil er im Vorfeld seiner postulierten Tat identifiziert und unschädlich gemacht werden soll, wird der unbescholtene Bürger zum ideologisch bereits straffällig gewordenen Feind. Über ihn befindet, wie es im Kriegsfall üblich ist, die Exekutive, was der Instrumentalisierung des sogenannten Terrorismus Tür und Tor öffnet.

Wollte man der Eskalation des Gesinnungsverdachts mit einer offenen Debatte um die politischen Forderungen angeblicher Extremisten entgegentreten, dann wäre deren Ausgang prinzipiell offen. Es ginge darum, Farbe zu bekennen und den Inhalten, die den politischen Radikalismus so verwerflich machen, konsequent auf den Grund zu gehen. Das könnte die Glaubwürdigkeit eines Staates erschüttern und sich auf seine Aufgabe, die störungsfreie Kapitalverwertung zu gewährleisten, fatal auswirken.

Da die Kompaßnadel der politischen Mitte insbesondere seit dem Anschluß der DDR an die BRD nach rechts zeigt, wie an der Verschärfung der sozialen Unterschiede, der Militarisierung der Außenpolitik, der fortwährenden Aushöhlung bürgerlicher Rechte, der breiten Akzeptanz sozialrassistischer Feindseligkeit und der trotz des Scheiterns des Realsozialismus beibehaltenen antikommunistischen Demagogie unschwer zu belegen ist, erfreuen sich völkische, den Kapitalismus im nationalen Rahmen allemal gutheißende Rechtsradikale unausgesprochen einer weit höheren gesellschaftlichen Akzeptanz als die internationalistische Linke. Sie sind Popanz und Büttel der restaurativen Entwicklung der Bundesrepublik zu einem von neofeudalistischer Klassenordnung und imperialistischer Selbstbehauptung geprägten Staat in einem. Popanz, weil an ihnen das NS-Vermächtnis auf demonstrative Weise als überwunden dargestellt werden kann. Büttel, weil sie den sozialrassistischen und eugenischen Charakter weißer Suprematie, wie von bürgerlichen Volkstribunen wie Sarrazin und Broder gepredigt, realpolitisch verallgemeinern und ideologisch durch das von ihnen repräsentierte Feindbild exkulpieren.

So kann die politische Mitte in der totalitarismustheoretischen Gleichsetzung von linkem und rechtem Extremismus das ihrem Verwertungs- und Durchsetzungsanspruch Eigene nach rechts ausgrenzen und von dort in einer Rochade auf links übertragen. Der Widerstreit zwischen dem revolutionären Eintreten für das Schwache und Unterworfene, das Namen- und Sprachlose auf der einen Seite und dem nationalistischen Primat des Starken und Überlebenstüchtigen auf der anderen Seite wird so auf eine Weise negiert, daß die Mitte sich allein durch das Postulat unvereinbarer Antipoden definieren läßt. Dabei löst sich der normative Gehalt des liberal-kapitalistischen Gesellschaftsentwurfs im Symbol des Gleichheitszeichens zur universellen Gültigkeit in Anspruch genommener Werte auf.

Bricht die Herrschaft des Starken über das Schwache einmal in seiner ganzen Gewalt hervor, dann erweist sich die horizontale Egalität als ideologisches Trugbild, das im Widerspruch zwischen formaljuristischem Gleichheitsanspruch und Klassenantagonismus seine gesellschaftliche Entsprechung findet. Nun kann man einen kurzen Blick auf das gemeinsame Interesse autoritärer Staatlichkeit und ihrer rechtsradikalen Verabsolutierung an der Sicherung herrschender Verhältnisse werfen. Gleich zwei Mal in jüngster Zeit bot sich diese Gelegenheit, und in beiden Fällen war die große Bestürzung über den vermeintlich unerwarteten Ausbruch rechter Gewalt signifikant für den Versuch, die ideologische Verwandtschaft von staatlicher Gewaltregulation und nazistischer Mordpraxis unkenntlich zu machen.

So ist im Manifest des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik eine antikommunistische und islamfeindliche Gesinnung virulent, deren Argumente auf fast identische Weise bei der etablierten neokonservativen Rechten Europas und Nordamerikas anzutreffen sind. Vor der darin lauernden Gewalt wird seit vielen Jahren gewarnt, so daß es keinen Grund gab, sich überrascht zu zeigen. Das gleiche gilt für das mörderische Trio aus Zwickau, das über viele Jahre in einem geheimdienstlich unterwanderten Sozialbiotop gut aufgehoben war, während die von ihm mutmaßlich begangenen Morde mit geradezu stereotyper Ignoranz als Kriminalität ohne politischen Hintergrund untersucht wurden. Im Vorwurf, Politik und Behörden seien auf dem rechten Auge blind, reproduziert sich derweil der staatstragende Antiextremismus. Als ob es keine andere Möglichkeit gäbe, das Phänomen des nun offiziell auch so genannten Rechtsterrorismus zu analysieren und zu bewerten, wird die Gleichsetzung zu linksradikaler Militanz auch dann vollzogen, wenn sie unter der Prämisse bestritten wird, daß der Extremist immer der andere ist. Auf die Kategorie des Extremismus möchte man nicht verzichten, man braucht sie noch, um den sich weltweit ankündigenden sozialen Widerstand unterdrücken zu können.

25. November 2011