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REPRESSION/1491: Informationelle Selbstbestimmung wird nicht mehr reichen ... (SB)




Der Begriff des Datenschutzes weicht auf, was in bürgerrechtlichem Interesse im ersten Schritt als schützenswert zu gelten hat. Nicht die Daten sind zu schützen, sondern die Autonomie der Menschen, die durch das aus Daten erwirtschaftete operative Wissen bedroht werden können. Personenbezogene Daten nicht mißbräuchlich gegen das Interesse der Menschen zu verwenden, die die aus ihnen erwirtschafteten Informationen produzieren, wird noch am ehesten im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 1983 als grundrechtlicher Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung anerkannt. Obwohl in Anbetracht der Durchdringung aller individuellen Lebensbelange durch informationstechnische Systeme von zunehmender Bedeutung, wurde dieser Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht in den verfassungsrechtlichen Grundrechtekatalog des Grundgesetzes aufgenommen.

Daß sich allen wohlfeilen Lippenbekenntnissen zum Trotz bislang keine parlamentarische Mehrheit für diesen Schritt mobilisieren ließ, ist einer Interessenübereinstimmung von Staat und Kapital geschuldet, die die Primate administrativer Verfügungsgewalt und ökonomischer Verwertung über den historisch erstrittenen Anspruch des bürgerlichen Subjekts stellt, dem staatlichen Gewaltmonopol und der Notwendigkeit, Lohnarbeit zu verrichten, ein Mindestmaß an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung gegenüberzustellen. Als Ergebnis der bürgerlichen Emanzipation vom feudalistischen Absolutismus verkörpert der Anspruch auf Privatheit nicht nur das Recht, sein Leben frei von der Verfügungsgewalt des Staates fristen zu können. Das damit konstituierte bürgerliche Subjekt schwingt sich mit dem Anspruch auf Privateigentum auch zu einem wirtschaftlichen Akteur auf, der nur mehr der unsichtbaren Hand des Marktes gegenüber rechenschaftspflichtig sein soll. Äquivalent zu diesem angeblichen Regulativ der freien Marktwirtschaft könnte das Private, im Gegenzug zur öffentlichen Verfügbarkeit des Menschen, gemeinhin verstanden als das Zugeständnis zur unbeeinträchtigen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, denn auch als bloße Option darauf bezeichnet werden, sich in eigener Regie verwertbar zu machen.

Indem der liberale Verfassungsstaat durch die schrittweise Anerkennung der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Bürger die gesellschaftliche Voraussetzung für die industrielle Entwicklung der Produktivkräfte schuf, zementierte er auch die massive materielle Ungleichheit der Eigentumsordnung. Der von der Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch die Bewirtschaftung eigenen Landes oder durch das Eigentum an Produktionsmitteln zu bestreiten, befreite Lohnarbeiter war und ist in dieser Ordnung dem Zwang unterworfen, seine Arbeitskraft und Lebenszeit dem Meistbietenden zu verkaufen. Dieser eignet sich wiederum einen unbezahlt bleibenden Anteil der Arbeit zur Kapitalakkumulation an. So legitimieren Freiheitsrechte wie das der Unverletzlichkeit der eigenen Person und der eigenen Wohnung, des Schutzes des Privateigentums und der eigenen Daten auch den Zwang, sich zur Sicherung des eigenen Lebens fremdbestimmten Verhältnissen zu unterwerfen.

Begreift man verfassungsrechtliche Gleichheitsansprüche als unabdingliche Voraussetzung für die Freiheit des einen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, und die des anderen, sich ihren Mehrwert anzueignen, dann kann der historische Fortschritt der bürgerlichen Aufklärung nur als unvollständiger, allein die abstrakte Sphäre des Rechts und den Tauschwertcharakter der Arbeit entwickelnder Schritt verstanden werden. Der Anspruch auf Privatheit und Persönlichkeitsschutz erweist sich mithin als ein Lehen des Staates, das zugunsten der maximalen Entfachung der gesellschaftlichen Produktivkräfte gewährt wird. Das grundrechtlich dazu, die eigene Haut zu Markte zu tragen, ermächtigte Individuum kann diese Handlungsfähigkeit bestenfalls dazu nutzen, einen Anteil an der gesamtgesellschaftlichen Produktivität zu erobern, der ihn weniger als andere dazu nötigt, sich zur Sicherung seines Lebens fremden Interessen zu unterwerfen. Anders gesagt - das Private kann als Element der Vergesellschaftung niemals unabhängig von den Produktivkräften sein, die die Gesellschaft insgesamt bedingen.

Deren Entwicklung ist durch die mikroelektronische Produktionsweise in ein Stadium der gesamtgesellschaftlichen Rationalisierung eingetreten, demgegenüber jede Form von informationeller Selbstbestimmung als inakzeptabler Widerstand erscheinen muß. Um das bürgerliche Marktsubjekt so weitreichend wie möglich in Wertschöpfungsprozesse einspeisen zu können, die immer weniger auf der industriellen Güterproduktion und immer mehr auf informellen und immateriellen Formen der Dienstleistungs-, Wissens- und Kulturwirtschaft beruhen, muß es selbst der permanenten, möglichst treffsicheren Evaluation seiner Arbeitsleistung, seines Warenkonsums, seines Sozialverhaltens, seines Gesundheitszustandes und seines Bildungsgrades unterworfen werden. Indem die güterproduzierende Lohnarbeit entweder im Rahmen der Globalisierung in weniger produktive Regionen ausgelagert oder durch automatisierte Fertigungsverfahren eingespart wurde, hat sich die Wertbasis der Arbeit insgesamt verringert. Zwar wird der daraus resultierende Verlust an Kaufkraft der eigenen Bevölkerung durch Waren- und Kapitalexport wie finanzkapitalistische Akkumulationsprozesse kompensiert, doch ist die diesem Entwertungsprozeß immanente Krise allein dadurch nicht zu bewältigen. Mit um so größerem Nachdruck zielt die technologische Entwicklung der Produktivkräfte daher über die weitere Verbilligung der Arbeit hinaus auf die Rationalisierung des Kostenfaktors Mensch.

Da dies praktisch alle Lebensbereiche von der Wiege bis zur Bahre betrifft, bietet die Allgegenwart rechnergestützter Distributionsformen und Evaluationsprozesse ein Füllhorn an Optimierungs- und Einsparungsmöglichkeiten. Arbeitsprozesse können bis auf ihre sekündliche Erfassung, ihre Input- und Outputbilanzen sowie individuelle Eignungen kalibriert werden. Produktion und Verbrauch können auf allgemeiner wie individueller Ebene enger ineinandergreifen, wenn absehbar wird, was wann und in welcher Form konsumiert wird. Das Personalwesen profitiert ebenso von der hochgradigen Transparenz individueller Befindlichkeiten, Eigenschaften und Defizite wie die Kreditwirtschaft und das Versicherungswesen. Den kostensparenden Effekt der Auslagerung von Serviceleistungen an die Kunden kann jeder an dem zeitlichen Aufwand überprüfen, dessen es bedarf, um die dafür erforderlichen Buchungs-, Authentifizierungs-, Ein- und Ausgabeverfahren zu erlernen. Die Forderung des lebenslangen Lernens bedeutet nicht etwa, seinen kulturellen oder wissenschaftlichen Interessen zu frönen, sondern die Voraussetzungen zur Verwertung der eigenen Arbeitskraft auf eigene Kosten und in eigener Regie zu erbringen. Die sogenannte Gesundheitswirtschaft kann angeblich förderliches und schädliches Verhalten nach individueller Maßgabe aussteuern, um von der bloßen medizinischen Dienstleistung zu einem prädiktiven Regime fortwährender Sanktionierung und Optimierung zu mutieren. Sozialtechnokratische Maßnahmen demografischer, migrationspolitischer, bildungspolitischer und ressourcentechnischer Art erweitern den biopolitischen Zugriff auf eine Gesellschaft, die als einziger Produktivfaktor des Staates selbst den Charakter einer Fabrik annimmt.

Es ist kein Zufall, daß die schwächsten, auf Sozialtransfers angewiesenen Gruppen der Bevölkerung die Vorreiter bei der erzwungenen Offenlegung aller Lebens- und Verbrauchsverhältnisse spielen. Der elektronische Abgleich ihres Einkommens und ihres Konsums hat bereits begonnen und wird mit der Verschärfung des ökonomischen Mangels diejenigen Formen annehmen, die an Flüchtlingen durch das Lagerregime und den Entzug von Geld- zugunsten von Sachleistungen bereits vollzogen werden. Die Voraussetzungen für die Einspeisung des Bürgers, dessen Freiheit sich ohnehin auf die Wahl verschiedener Konsumartikel zu reduzieren droht, in eine Art von Gesellschaftsmaschine, in der jeder Zahlungsvorgang durch elektronische Abrechnungsprozesse auf die daran Beteiligten zurückführbar ist, in der der individuelle Verbrauch von Wasser und Elektrizität ebenso exakt bestimmbar sein wird wie jede Bewegung im Raum, in der politische Einstellungen, sexuelle Neigungen und religiöse Orientierungen auf Knopfdruck abrufbar sind, sind längst gelegt.

Der Anspruch auf den Erhalt der Privatsphäre kann diese Entwicklung auch deshalb nicht verhindern, weil das Private selbst ein Element der sozialökonomischen Ratio ist, die diese Entwicklung vorantreibt. Wenn der netzpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/die Grünen, Konstantin von Notz, im Rahmen der aktuellen Debatte um die gedeihliche Zusammenarbeit transnationaler IKT-Konzerne und nationaler Repressionsorgane mit gebotener Dringlichkeit von einem "Endspiel in der Rechtsstaatsfrage" [1] spricht, dann gibt er im Grunde genommen zu verstehen, daß die sich aus dem umfänglichen informationstechnischen Instrumentarium ergebenden Herrschaftspraktiken mit bürgerrechtlichen Mitteln kaum mehr einzuholen, geschweige denn umzukehren sind. In einem nie dagewesenen Ausmaß wurde mit dem Entwicklungssprung in die mikroelektronische Produktionsweise das, was dem Menschen als Zwang zur Unterwerfung unter das Regime fremdbestimmter Arbeit zuwider ist, mit dem Glanz einer begehrenswerten Ware und dem Versprechen auf gesellschaftlichen Fortschritt in sein Gegenteil verkehrt. Es bedarf schon des grundlegenderen Widerstands gegen die Totalisierung der Arbeitsgesellschaft, um überhaupt einen Begriff davon zu bekommen, was Selbstbestimmung unter der Bedingung kapitalistischer Vergesellschaftung bedeuten könnte.

Fußnote:

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2141795/

13. Juni 2013