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REPRESSION/1528: Gegen Ausbeutung durch Knastarbeit (SB)



Die These des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben vom Lager als nomos des politischen Raums im zur Regel gewordenen Ausnahmezustand mag abgehoben erscheinen, findet im grotesken Ausmaß des US-amerikanischen Strafvollzugs allerdings ein zeitgemäßes Beispiel. Wo die staatlich angeordnete Freiheitsberaubung weit über das Maß hinaus, die Gesellschaft vor Gewalttätern zu schützen, zu einem Mittel sozialer Regulation wird, wo nicht nur die bauliche und institutionelle Infrastruktur der Einknastung zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wird, sondern auch die Zwangsarbeit der für wenige Cent in der Stunde als Zulieferer für Großkonzerne schuftenden Gefangenen, hat man es mit einem perfiden System der Ausgrenzung und Ausbeutung zu tun.

Das wird insbesondere an der strafrechtlichen Verfolgung ethnischer Minderheiten und sozial prekarisierter Bürger in den USA deutlich. Schwarze Jugendliche wandern mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit in den Knast, als daß sie einen Job mit abgesichertem und angemessenem Auskommen erhalten. Bis zu 2,5 Millionen Insassen US-amerikanischer Haftanstalten und mindestens zwei mal so vielen Menschen, die unter Aufsicht der Strafverfolgungsbehörden stehen, weil sie inhaftiert waren oder Bewährungsauflagen erfüllen müssen, ist das Wahlrecht entzogen. Gerade weil es sich häufig um sozial ausgegrenzte Menschen mit möglichen "Radikalisierungstendenzen" handelt, entledigt man sich auf diese Weise einer herrschaftstechnisch als besonders unzuverlässig geltenden Klientel.

Nicht zu vergessen bei der Institutionalisierung des Lagers als soziales Regulativ ist das allgemeine Wissen darum, daß Millionen Menschen mit drakonischen Strafen schon für geringe Eigentums- oder Drogendelikte sanktioniert werden. Eine Gesellschaft, die sich eine derartig große, mit HighTech-Mitteln verwahrte und als Wirtschaftsfaktor nicht unbedeutende Gefangenenbevölkerung leistet, hat den sozialen Krieg praktisch auf Dauer gestellt. Schon Präsident William Clinton, dessen sich dieser Tage zum 20. Mal jährende Sozialhilfereform die permanente Verarmung in den USA deutlich vergrößerte, indem unter anderem die Verfügbarkeit staatlicher Transferleistungen lebenszeitlich auf wenige Jahre begrenzt wurde, faßte die Zukunft des postindustriellen Massenelends in die Worte, daß sich nicht eine neue underclass, sondern outerclass bilde.

Am 9. September 1971 rebellierten 1500 Insassen der Attica Correctional Facility nach der Erschießung des Aktivisten George Jackson im kalifornischen Gefängnis St. Quentin gegen die brutalen Haftbedingungen. Der politische Widerstand der Gefangenen mündete in die bewaffnete Niederschlagung des Aufstands unter Einsatz des Militärs, angeordnet von Gouverneur des Staates New York, Nelson Rockefeller, der den Forderungen der Insassen den ausgestreckten Mittelfinger entgegenhielt. Über 40 Insassen, Wärter und Geiseln wurden erschossen, nachdem Hubschrauber CS-Gas über dem Gefängnis abgeworfen hatten und die von den Gefangenen verteidigten Gebäude von 500 schwerbewaffneten Polizisten gestürmt wurden [1]. Anläßlich des 45. Jahrestages dieses legendären Aufstandes hat die Antirepressionsbewegung in den US-Knästen zu einem Streik- und Aktionstag gegen die Knast-Sklaverei aufgerufen. Die deutsche Gefangenengewerkschaft GG/BO hat für diesen Tag Solidaritätskundgebungen in der Bundesrepublik organisiert [2].

2013 kam es in Kalifornien zu den bislang größten Widerstandsaktionen gegen die besonders unmenschliche Form der Isolationshaft, die in den USA um die 80.000 Gefangene zum Teil jahrzehntelang erleiden müssen [3]. In der Bundesrepublik fand dieser spektakuläre Akt des Aufbegehrens von Menschen, die praktisch lebendig begraben und Haftbedingungen ausgesetzt sind, die den Sachverhalt der Isolationsfolter allemal erfüllen, kaum Beachtung. Allein die Tatsache, daß sich die Gefangenen unter der Bedingung maximaler Vereinzelung mit Hilfe von außen zu einer kollektiven Aktion organisieren konnten, war ein beispielhafter Akt praktizierter Solidarität. Diese erweist ihre Haltbarkeit vor allem in aussichtslosen Situationen [4], und was ist wohl schmerzhafter als rund um die Uhr über Jahre in einer kleinen betonierten Zelle ohne Kontakt mit Mensch - bis auf die Schikanen der Wärter - und Natur isoliert zu werden. Da auch im krisengeschüttelten Europa aller Anlaß dazu besteht, sozialen Widerstand mit harten Mitteln zu unterdrücken, sollen solche Beispiele gemeinsamen Widerstandes gar nicht erst Schule machen.

Der Black Panther-Aktivist Eldrigde Cleaver brachte die inzwischen auch in den europäischen Metropolengesellschaften dauerhaft nicht mehr für die Kapitalverwertung benötigten Millionen bereits 1970 auf den Begriff des "Lumpenproletariats", jener von Marx eingeführten Kategorie für das die revolutionäre Arbeiterklasse angeblich hintergehenden urbanen Subproletariats:

O.K. Wir sind Lumpen. Vorwärts. Lumpenproletariat sind all diejenigen, die keine sichere Beziehung oder althergebrachten Anteil an den Produktionsmitteln und den Einrichtungen der kapitalistischen Gesellschaft haben. Der Teil der 'industriellen Reservearmee', der beständig in Reserve gehalten wird; der niemals gearbeitet hat und der das auch niemals tun wird; der keine Arbeit finden kann; der ohne Ausbildung und ungelernt ist; der durch Maschinen, Automation und Kybernetik ersetzt und niemals 'umgeschult oder mit neuen Qualifikationen versehen' worden ist; all diejenigen, die von Wohlfahrt oder staatlicher Hilfe leben.[5]

Dieser Zustand gilt heute für mehr Menschen denn je und in den USA insbesondere für ethnische und migrantische Minderheiten, so daß sich die Frage des sozialen Widerstands mit neuer Brisanz und Aktualität stellt. Zwar findet der gegen die Repression im Strafvollzug gerichtete Aktivismus in politisch reaktionären Zeiten nur wenig aktive Unterstützung in der Bevölkerung, doch wer im sozialdarwinistischen Zeitgeist eher für mehr Knäste votiert, hat womöglich die Rechnung ohne den Wirt gemacht.


Fußnoten:

[1] 8minütige Videodokumentation "Attica Is All Of Us"
http://vimeo.com/16298370

[2] http://ggbo.de/vereint-gegen-die-knast-sklaverei-solidaritaet-mit-dem-gefangenenwiderstand-in-den-usa/

[3] REPRESSION/1501: Hungerstreik in Kalifornien gegen Isolationsfolter und systematische Entmenschlichung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1501.html

[4] BERICHT/024: Linksliteraten - Bannrecht, Kerker, Isolation (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0024.html

[5] REZENSION/379: Oliver Demny - Die Wut des Panthers (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar379.html

6. September 2016


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