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REPRESSION/1529: "Wir schaffen das" ... EU-Grenzregime höherer Ordnung (SB)



Dimitris Avramopoulos, in der EU-Kommission zuständig für Migration, kann sich die Hände reiben. "Wir sind heute besser auf neue Flüchtlingswellen vorbereitet, als wir es waren", zieht der Grieche im sprachlichen Duktus eines Oberbefehlshabers Bilanz, der seine Festung wohlgerüstet sieht, anbrandenden feindlichen Horden standzuhalten. "Denken Sie mal daran, wo wir vor einem Jahr standen und wo wir jetzt sind", preist Avramopoulos den maßgeblich unter deutscher Führung erzwungenen administrativen Gewaltakt der Europäischen Union, die sogenannte Flüchtlingskrise in eine Perfektionierung der Abschottung zu verwandeln.

Durch die Vereinbarung mit Ankara ist es gelungen, die Zahl der aus der Türkei ankommenden Migranten von mehr als 1.700 pro Tag auf durchschnittlich 85 zu reduzieren. Schiffe der NATO patrouillieren in der griechischen Ägäis, die Westbalkanroute ist versperrt. Nun soll die europäische Grenzschutzagentur Frontex auch noch die Grenze von Bulgarien zur Türkei abdichten. Migrationskommissar Avramopoulos ist zufrieden: "Wir haben Fortschritte gemacht". Daß diese Unterbrechung der östlichen Route zwangsläufig zu einer Verlagerung nach Süden führt, belegt ein Anstieg der Flüchtlingszahl in Italien auf das neue Rekordhoch von fast 160.000 Menschen im September. Und da sich in Libyen derzeit rund 900.000 Migrantinnen und Migranten aufhalten, dürfte die Zahl der Menschen, die Europa auf dem oftmals tödlichen Weg über das Mittelmeer erreichen wollen, noch im Herbst dramatisch steigen. [1]

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf der internationalen Konferenz zur Flüchtlingspolitik in Wien wie so oft die Widersprüche zwischen den EU-Mitgliedsstaaten ausgehebelt und die entscheidenden Weichenstellungen des neu konfigurierten Grenzsystems federführend vorgenommen hat, kündigt die nächsten Schritte an:

"Deshalb haben wir heute auch darüber gesprochen, dass es notwendig ist, die Drittstaaten-Abkommen insbesondere mit Afrika, aber auch mit Pakistan, mit Afghanistan, woran Deutschland ja auch arbeitet, möglichst schnell fertig zu stellen, damit klar wird: Wer nicht aus humanitärer Sicht in Europa bleiben kann, der wird auch in sein Heimatland zurückgeführt." [2]

In der Wortwahl brachialer, doch inhaltlich kongenial, konkretisiert Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, wie mit "Illegalen" zu verfahren sei: Die Balkanroute müsse dauerhaft geschlossen bleiben, mehr als eine Million Eingewanderte seien abzuschieben und in bewachten Lagern außerhalb der EU festzuhalten. Zu diesem Zweck benötige Europa eine neue Libyenpolitik. Das Land müsse zusammengehalten und stabilisiert werden, da man andernfalls nicht "diese gigantische Flüchtlingsstadt an der Küste aufbauen" könne, wohin man all die zurückbringen müsse, die illegal nach Europa eingewandert seien, so Orbán. Daß der unter europäischer Führung vollzogene Angriffskrieg gegen Libyen die unter dem damaligen Staatschef Gaddafi praktizierte vorgelagerte Flüchtlingsabwehr zerschlagen hat, erwähnten Merkel und Orbán natürlich nicht, rührte dies doch an die Grundsätze europäischer Flüchtlingspolitik, von den Fluchtursachen ganz zu schweigen.

Die Bundeskanzlerin hat auf dem Wiener Treffen als einflußreichste Protagonistin einer konsistenten EU-Politik erwirkt, daß einseitig verfügte nationale Grenzschließungen aufzuheben und durch deutlich ausgeweitete Kompetenzen der Grenzschutzagentur Frontex zu ersetzen seien. Deren Einsatz war bislang bei einigen EU-Staaten auf heftige Gegenwehr gestoßen, die darin eine Besatzungstruppe sahen, die unter Brüsseler Oberbefehl gegen die Interessen der betroffenen Staaten handeln könnte. [3] Die hegemonialen Ambitionen der EU unter deutscher Führerschaft gründen jedoch nicht zuletzt auf offenen Binnengrenzen und einem einheitlichen Management an den Schengen-Außengrenzen, so daß eine weitere taktische Meisterleistung Merkels zu beklagen ist, die in Wien einen Durchbruch auf den Weg gebracht hat.

Wenngleich die Flüchtlingspolitik der EU zu Prinzipien zurückzukehren scheint, die bereits in der Vergangenheit praktiziert wurden, ist doch eines kaum zu übersehen: Der Aufholprozeß nach dem mühsam gekitteten Auseinanderdriften nationalstaatlicher Partikularinteressen führt auf eine höhere Ebene supranationalen Zugriffs unter der Regie der dominierenden Mächte, also insbesondere Deutschlands. Nun wird Frontex rasant ausgebaut, dessen Budget von 142 Millionen Euro (2015) über 250 Millionen (2016) auf 330 Millionen (2017) wächst. Die Agentur kann weitere Autos, Schiffe und sogar Hubschrauber mieten, doch ist die finanzielle, materielle und personelle Aufstockung nur ein Teilaspekt erheblich wachsenden Einflusses.

Nach der weitreichenden Frontex-Reform im Oktober muß die Zentrale in Warschau die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr um Zusammenarbeit bitten, sondern kann diese unter Androhung von Konsequenzen einfordern. So ist der Direktor der Agentur künftig befugt, etwaige Probleme auf politischer Ebene anzusprechen und sich darüber hinaus des Rechtswegs zu bedienen, um entsprechende Themen bis zum Rat auf Ministerebene zu bringen. Fortan müssen die Mitgliedsstaaten ein festgelegtes Kontingent an Grenzschützern für die Agentur abstellen und sich einen sogenannten Streßtest ihrer Grenzen gefallen lassen. Dabei wird geprüft, ob die Regierungen alle angeforderten Daten und Fakten zur Verfügung stellen können. Sollte ein Staat die entsprechenden Daten nicht liefern, wäre das ein deutliches Indiz für Schwächen an seinen Grenzen. [4]

Im Warschauer Frontex-Turm, dem Nervenzentrum eines europaweiten Grenzregimes, sollen jegliche relevanten Informationen gesammelt, ausgewertet und verarbeitet werden. Den sattsam bekannten Vorwurf, die Agentur baue die "Festung Europa" aus, könnte deren Exekutiv-Direktor Fabrice Leggeri heute wohl mit den Worten "Was denn sonst!" beantworten, ohne einen Proteststurm zu ernten. Schließlich gehe es darum, die offenen Grenzen zwischen den Schengen-Staaten zu erhalten und zugleich dem hohen "Migrationsdruck auf Europa" zu entsprechen.

Dem hält Iverna McGowan von Amnesty International entgegen, angesichts der größten Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieben die EU und die Mitgliedsländer eine Politik der Angst und der Zäune, die Menschen zurückdränge. Die EU verfüge über das Geld, die Mittel und die politischen Instrumente, um mit der Situation human umzugehen, doch habe sie sich dagegen entschieden. Das sei unverantwortlich und zu kurz gedacht, meint McGowan. Denn es gebe keinen Zaun, der höher sei, als der Wille eines Menschen zu überleben.

Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) warnt angesichts der Lage in Afghanistan, Syrien, dem Irak und verstärkt auch wieder in Italien. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren eine Vielzahl aller erdenklicher Mißhandlungen von Flüchtlingen, deutsche Verwaltungsgerichte lehnen Abschiebungen von Asylsuchenden nach Ungarn oder Griechenland mit der Begründung ab, die Lage für Migranten sei in diesen Ländern "unmenschlich". Und was macht Frontex? Die Agentur hat zwar einen eigenen Beamten, der die Menschenrechtslage bei den Einsätzen an der Außengrenze prüft. Doch wurden zwischen 2014 und August 2016 lediglich 37 Verstöße gegen Grundrechte registriert - eine lächerlich geringe Zahl im Vergleich zu den Recherchen von Amnesty, Pro Asyl und anderen Organisationen. Zu Übergriffen in einzelnen Staaten wie Ungarn äußert sich Frontex ohnehin nicht. [5]

Da die europäische Flüchtlingsabwehr bekanntlich über Leichen geht, ist es ohnehin müßig, ausgerechnet Frontex vorzuwerfen, die Agentur blende Menschenrechtsverletzungen aus. "Wir schaffen das!" - diese höchst umstrittenen Worte der Bundeskanzlerin scheinen sich binnen einen Jahres erfüllt zu haben, wenngleich auf ungeahnte Weise. Fast möchte man meinen, daß die als Einladung mißverstandene heruntergelassene Zugbrücke bereits der Auftakt des strategischen Manövers war, die sogenannte Flüchtlingskrise unter breitester Zustimmung der Bevölkerung in den EU-Mitgliedsländern in ein Grenzregime höherer Ordnung zu überführen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/zwischenbilanz-eu-kommissar-fluechtlingspakt-mit-der.1773.de.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingsgipfel-in-wien-eu-staaten-wollen-frontex.1783.de.html

[3] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article158370377/Der-Frontex-Beschluss-zeigt-dass-die-EU-funktioniert.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/europas-grenzenschutz-mehr-macht-fuer-frontex.795.de.html

[5] http://www.morgenpost.de/politik/article208325779/Schlaege-gegen-Gefluechtete-an-der-EU-Aussengrenze-zu-Ungarn.html

30. September 2016


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