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REPRESSION/1540: Berlin und Ankara in Staatsräson vereint (SB)



Die unter Linken kontrovers kolportierte These, militanter Widerstand gegen repressive Staatlichkeit sei kontraproduktiv, ja sogar konterrevolutionär, da er der Regierung Vorwände für verschärfte Zwangsmaßnahmen liefere, wird vom Erdogan-Regime ein ums andere Mal widerlegt. Wenn im Zuge der Machtergreifung prägnante Ereignisse inszeniert oder instrumentalisiert werden, folgt daraus nicht, daß ein auf legale und demonstrative Mittel beschränkter Protest das Schlimmste verhindert und die Welle der Repression gemildert hätte. Die AKP-Regierung hat insbesondere die konservative kurdische Bevölkerung in den westlichen Städten mit dem Versprechen auf individuelle kulturelle Rechte eingebunden, solange sie auf deren Stimmen angewiesen war. Die Gewährung kollektiver Rechte wie Autonomie der südöstlichen Kurdengebiete war hingegen nie vorgesehen, wie auch die wiederholten Angebote der PKK zu substantiellen Friedensgesprächen stets zurückgewiesen wurden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß er alle "Terroristen", also den kurdischen Widerstand, niederwerfen und vernichten wolle.

Der Aufstieg der HDP, die nicht nur als Partei der Kurdinnen und Kurden, sondern jeglicher Minderheiten in der Türkei ins Parlament einzog, durchkreuzte zunächst den Umbau zu einem Präsidialsystem. Was im Lande selbst wie auch international als Hoffnungszeichen möglicher Demokratisierung wahrgenommen wurde, war aus Sicht der AKP-Regierung ein weiterer und höchst unerwünschter Aspekt der Kurdenfrage, die ein für allemal aus der Welt geschafft werden sollte. Wie der Krieg gegen die kurdischen Städte im Südosten des Landes und die Selbstverteidigungskräfte Rojavas im Norden Syriens zeigt, zielt der türkische Staat darauf ab, die Kurdinnen und Kurden durch physische Vernichtung, Vertreibung und Zerstörung ihrer soziokulturellen Lebenszusammenhänge als eigenständige Entität auszulöschen.

Da sich die Bezichtigung, jemand arbeite mit der PKK zusammen oder sympathisiere mit ihr, bei weitem nicht auf die gesamte Opposition anwenden ließ, bediente sich die AKP-Regierung der endgültigen Entscheidung des Machtkampfs mit der Gülen-Bewegung, um das Szenario uneingeschränkter Willkür staatlichen Handels zu komplettieren. Unabhängig davon, welche Erklärung des Putschversuchs man favorisiert, schuf sich der angeblich von einer Machtübernahme bedrohte türkische Staat jedenfalls ein Instrumentarium des fortgesetzten Ausnahmezustands, mit dessen Hilfe das Regime jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken trachtet.

Es mutet wie Wasser auf die Mühlen des Erdogan-Regimes und ein Akt der Kollaboration an, wenn westliche Medien in ihrer Berichterstattung die Repression in der Türkei assoziativ mit vorgeblichen Ursachen oder Auslösern verknüpfen. So beginnt ein aktueller Beitrag von spiegel.de mit dem Satz:

Nach der Ermordung des russischen Botschafters und einem Anschlag kurdischer Extremisten hat die Türkei in sieben Tagen 1700 Menschen festgenommen. Die meisten Verhafteten sollen Anhänger der Gülen-Bewegung sein. [1]

Wenngleich kein kausaler Zusammenhang hergestellt und die Vorwurfslage nicht als Tatbestand ausgewiesen wird, legt diese Eröffnung der Leserschaft doch geradezu nahe, der türkischen Regierung ein zumindest in Teilen gerechtfertigtes Handeln zu attestieren. Insbesondere der Verzicht auf einen kritischen Umgang mit der Bezichtigungsstrategie des Erdogan-Regimes trägt dessen Offensive gegen "terroristische" Umtriebe stillschweigend oder explizit mit. So heißt es denn auch einige Zeilen weiter, die Türkei führe in den Kurdengebieten im Südosten einen brutalen Kampf gegen Extremisten und in Syrien bekämpfe die türkische Armee seit längerem die Terrormiliz "Islamischer Staat" wie auch das Regime von Baschar al-Assad. Kein Wort von den Angriffen türkischer Spezialeinheiten mit schweren Waffen auf die Zivilbevölkerung kurdischer Städte, kein Wort von den Attacken der türkischen Armee auf Rojava. Gezielte Auslassungen und eine sprachliche Nähe zur Version Ankaras kolportieren den gängigen Verschleierungsmodus, es handle sich um eine beiderseits befeuerte Spirale der Gewalt, so daß man nicht zwischen Täter und Opfer, Angriff und Verteidigung unterscheiden könne.

Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden allein in den vergangenen sieben Tagen 1682 Menschen für Verhöre festgenommen, 516 von ihnen inhaftiert. Den meisten wird eine Verbindung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen, die zweite große Gruppe sind Kurdinnen und Kurden, darunter auch hochrangige Politiker der Oppositionspartei HDP. Festgenommen wurde auch deren Vizechefin, Aysel Tugluk, die zugleich Anwältin der Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag ist, die gemeinsam mit zehn weiteren HDP-Abgeordneten seit vergangenem Monat in Untersuchungshaft sitzen. Erdogan bezeichnet die HDP als verlängerten Arm der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Gegen die meisten der 59 HDP-Abgeordneten ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Terrorverdachts. Möglich macht das ein neues Gesetz vom Mai, nach dem Abgeordnete keine Immunität mehr genießen. Die kleinste Gruppe der aktuell Festgenommenen betrifft Menschen, denen Verbindungen zum IS vorgeworfen werden. [2]

Zu den beiden Anschlägen in Istanbul Mitte Dezember hatten sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) bekannt, eine Abspaltung von der PKK. Wenngleich die TAK nicht mit der PKK gleichzusetzen ist und Demirtas die Anschläge verurteilt hatte, nahm die türkische Polizei bei Razzien gegen die HDP 220 Menschen fest. Ihnen wurden Propaganda für die PKK oder Parteimitgliedschaft vorgeworfen. Es ist das Regime, welches ausschließlich darüber verfügt, wer unter das Terrorverdikt fällt. Wer daher immer noch unterscheidet, ob diese oder jener vielleicht doch der PKK nahesteht oder nicht, betreibt das Geschäft Erdogans und natürlich auch der Bundesregierung, die auf diesem Gebiet unvermindert mit Ankara zusammenarbeitet.

Wie jeder weiß, ist die Türkei ein Folterstaat. Seit dem fünf Tage nach dem Putschversuch vom 15. Juli von Erdogan verhängten Ausnahmezustand gilt das auch offiziell und rechtswirksam. Die am 23. und 27. Juli im Zuge des Ausnahmezustands in Kraft getretenen Dekrete 667 und 668 heben Maßnahmen zum Schutz von Inhaftierten vor Folter und Mißhandlungen auf. Dekret 667 ermöglicht es der Polizei, Festgenommene statt bisher vier nun 30 Tage festzuhalten, ohne diese einem Haftrichter vorzuführen - ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. Dekret 667 ermöglicht zudem die Teilnahme von Polizisten an Gesprächen zwischen Anwälten und Mandanten, Dekret 668 verhindert den Besuch eines Rechtsanwalts bis zu fünf Tagen nach der Festnahme. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit wiederholt festgestellt, daß die Zugangsverweigerung für Anwälte bei Verhören unvereinbar mit dem Recht auf eine faire Verhandlung und dieser Zugang eine Sicherheitsmaßnahme gegen Mißhandlungen in Haft sei. [3]

Amnesty International hatte bereits im Juli von Folter und Mißhandlungen in türkischen Gefängnissen berichtet. Die türkische Regierung wies die Vorwürfe zurück. Ende Oktober legte Human Rights Watch dreizehn umfassend dokumentierte Fälle von Folter in türkischen Polizeistationen vor, die offenbar eher die Regel als die Ausnahme repräsentieren. Als der UN-Sonderberichterstatter für Folter die Türkei im Oktober besuchen wollte, wurde ihm der Zugang verwehrt. Wer sich wie ein Terrorist verhalte, werde auch so behandelt, verkündet Erdogan, und erklärt Kritik aus dem Ausland für irrelevant: Ihn störe es nicht, wenn er Diktator genannt werde. Das gehe zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Er mag ein Fanatiker sein, doch ein politischer Amokläufer ist er nicht, weiß er doch die Klaviatur der Kumpanei in den Hauptstädten Europas durchaus zu bedienen. Wenn er die EU beschuldigt, Terroristen zu beherbergen, da doch die PKK auch dort als Terrororganisation eingestuft sei, weiß er das starke Argument beiderseitiger Staatsräson auf seiner Seite.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/1600-festnahmen-neue-verhaftungswelle-in-der-tuerkei-a-1127536.html

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-is-hdp-101.html

[3] https://www.tagesschau.de/ausland/human-rights-wachts-bericht-zu-folter-in-der-tuerkei-101.html

26. Dezember 2016


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