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REPRESSION/1593: Erdogan - die Überraschung auf seiner Seite ... (SB)



Recep Tayyip Erdogan hat im Zuge seiner von langer Hand geplanten und Zug um Zug vorangetriebenen Machtübernahme einen weiteren Coup gelandet. Die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet spricht von einem "Wahlüberfall", und Posta staunte: "Alles ist innerhalb von 28 Stunden passiert." [1] Nachdem der türkische Präsident über Monate kursierende Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen zurückgewiesen und betont hatte, die zeitgleichen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen würden wie geplant im November 2019 stattfinden, hat er nun überraschend bereits für den 24. Juni Neuwahlen angesetzt. Damit bleiben der ohnehin geschwächten Opposition nur gut zwei Monate, um sich in Position zu bringen. Daß es sich dabei keinesfalls um eine spontane Entscheidung, sondern vielmehr um einen abgekarteten taktischen Winkelzug handelt, zeigt der durchchoreographiert anmutende Ablauf. Vor wenigen Tagen betätigte sich Devlet Bahceli, der greise Langzeitvorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), wie so oft in der Vergangenheit mit seinem Ruf nach vorgezogenen Wahlen als Königsmacher. Nach einem nur halbstündigen Gespräch mit seinem ultranationalistischen Verbündeten verkündete Erdogan den um fast eineinhalb Jahre vorgezogenen Wahltermin. Die Vorlage wanderte umgehend ins Parlament, wo ihre Verabschiedung angesichts der Mehrheiten als Formsache gilt. Da auch das Wahlamt keine Einwände erheben wird, beginnt sofort ein Wahlkampf, der diesen Namen kaum verdient. Daß er derart schnell anstehen und beispiellos kurz ausfallen würde, dürften selbst scharfe Kritiker des Despoten nicht geahnt haben. [2]

Was sich zur massiven Einflußnahme beim Urnengang zusammenbraut, zeichnete sich allerdings bereits im März ab, als ein neues Wahlgesetz verabschiedet wurde. Es legalisiert de facto jegliche Manipulationen der kommenden Wahlen, indem es insbesondere Parteienbündnisse im Vorfeld ermöglicht. Ohne Bündnis hätte die AKP keine Chance, 51 Prozent der Stimmen zu erreichen, während die MHP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern würde. Nun aber werden die Stimmen der Bündnisse gemeinsam gewichtet, wozu Erdogan im Zweifelsfall auch noch reaktionäre Kleinstparteien einbinden könnte, um sich die absolute Mehrheit zu sichern. Zudem darf die Regierungspartei Beobachter in die Wahllokale entsenden, die auch die Wahlurnen an sich nehmen können. Ungestempelte Wahlzettel, die beim Verfassungsreferendum 2017 maßgeblich zur Manipulation genutzt wurden, sind nun offiziell zugelassen, so daß die AKP-Kader den Wahlausgang in Händen halten.

Die Wahlen werden unter dem Ausnahmezustand stattfinden, der nach dem Putschversuch von Juli 2016 verhängt und soeben zum siebten Mal um drei Monate verlängert wurde. Er schränkt wichtige Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit ein und erlaubt polizeilichen Zugriff bei allen Eventualitäten. Davon abgesehen kontrolliert die AKP nahezu die gesamte Medienlandschaft wie vor allem die landesweiten Fernsehsender inklusive der ehemaligen Dogan-Medien nach ihrem Verkauf an Erdogan-nahe Unternehmer. Die AKP-Wahlmaschinerie wird ihre Wähler wieder an die Urnen fahren und abermals mit Geschenken bedenken. Wie schon 2017 wird es wohl auch diesmal massive Behinderungen geben. Damals kam es zu Verhaftungen von oppositionellen Wahlkämpfern und tätlichen Angriffen auf sie. Zum Einsatz kommen sicher auch die von der AKP aufgestellten und trainierten Nachbarschaftswächter, die bewaffnet sind und eine Art private Miliz des Präsidenten bilden. Die Stimmen der im Ausland lebenden Wahlberechtigten dürften mehrheitlich Erdogan zugute kommen, zumal die AKP in Deutschland subtil wie offen für den Präsidenten wirbt und Oppositionsanhänger bedroht. [3]

Warum sind die bevorstehenden Wahlen so wichtig? Mit ihnen werden die Verfassungsänderungen, die bei dem manipulierten Referendum 2017 ihre rechtliche Annahme erlangten, in Kraft treten. Der neugewählte Präsident wird sowohl Staatsoberhaupt als auch Regierungschef mit weitreichenden Befugnissen sein, wodurch das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Zahlreiche weitere Maßgaben sorgen ihrerseits dafür, daß das Parlament entmachtet wird und Erdogan zum Alleinherrscher avanciert. Der Ausnahmezustand, in dem er per Dekret regiert, soll zum Normalfall und Dauerzustand werden. Daß er sich bei diesem Vorhaben keineswegs einer Mehrheit sicher sein kann, da es selbst Teilen seiner eigenen Partei zu weit geht, zeigte das mit 51,4 Prozent der abgegebenen Stimmen nur knapp gewonnene Referendum. Ohne die Drangsalierung der Opposition und die Manipulation des Urnengangs hätte er keine Mehrheit bekommen. [4]

Warum zieht Erdogan die Wahlen vor? Er muß aus mehreren Gründen befürchten, im November nächsten Jahres sehr viel schlechter als heute dazustehen. Seine Wahlerfolge beruhten wesentlich auf dem wirtschaftlichen Erfolg, der zumindest den Mythos nährt, er habe die Lebensverhältnisse in der Türkei auf breiter Front angehoben. Längst rutscht das Land in eine Wirtschaftskrise, die nur durch ein künstlich genährtes hohes Wachstum wie insbesondere gigantische staatliche Zuschüsse vor allem im Bausektor kaschiert wird. Viele Unternehmen sind hoch im Ausland verschuldet, die Inflation steigt, während die Türkische Lira gegenüber dem Dollar und Euro weiter absackt und die hohe Arbeitslosigkeit von fast elf Prozent dem Land zu schaffen macht. Erdogan sieht sich unter diesem Umständen veranlaßt, schnell zuzuschlagen, bevor sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert und ihm die Felle der Wählergunst wegschwimmen.

Zudem will er die Welle des Nationalismus nutzen, die das Land seit dem Angriff der türkischen Streitkräfte auf den Kanton Afrin im Nordwesten Syriens erfaßt hat. Auch dies bedarf massiver Repression gegen einheimische Kritiker des Krieges, die als "Terroristen" diskreditiert und teils inhaftiert werden. Hinzu kommt die Propaganda der nahezu gleichgeschalteten Medien, denen zufolge die türkischen Truppen Afrin heldenhaft und ohne große Mühe erobert haben. Die Stadt sei unzerstört, die Menschen würden bestens versorgt, die "Terroristen" seien eliminiert, heißt es. Einwände aus dem Ausland weist Erdogan unter wüsten Drohungen und Beschimpfungen zurück, was bei vielen seiner Landsleute den Eindruck erwecken mag, er schlage die Mißachtung seitens des Westens zurück und richte den mit Füßen getretenen türkischen Stolz zu voller Größe auf. Erdogan braucht den Vernichtungskrieg gegen die Kurdinnen und Kurden auch aus innenpolitischen Gründen und will die Wahlen durchziehen, solange die Kriegsbegeisterung noch nicht erkaltet ist.

Die absurd kurze Frist bis zu den Wahlen im Juni soll verhindern, daß die Opposition Fahrt aufnimmt und womöglich sogar ein Gegenbündnis schmiedet. Könnte sie sich bei der Präsidentschaftswahl auf eine gemeinsame Kandidatin oder einen Kandidaten einigen, drohte Erdogan auf der Zielgeraden ein Supergau seiner Ambitionen. Nach einer solchen Übereinkunft sieht es derzeit aber nicht aus. Als gefährlichste Herausforderin Erdogans galt vor allem Meral Aksener von der Iyi Parti (Gute Partei). Die ehemalige MHP-Politikerin spricht eine ähnliche Wählergruppe wie die MHP und AKP an, weckt aber in kurdischen Kreisen böse Erinnerungen an die 90er Jahre, als die damalige Innenministerin als nationalistische Hardlinerin gegen sie vorging. Da die Iyi Parti erst im letzten Herbst gegründet wurde und eine Partei mindestens sechs Monate vor der Wahl sämtliche Gründungsformalitäten erledigt haben muß, könnte diese Formalie zum Ausschluß führen. Aksener kündigte an, in jedem Fall als Präsidentschaftskandidatin antreten zu wollen, wofür laut Gesetz 100.000 Unterschriften von Unterstützern ausreichen.

Der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, liegt in Umfragen teils vor, teils hinter Aksener auf dem zweiten Patz. Die CHP hat es nicht verstanden, die enorme Aufmerksamkeit zu nutzen, die ihr Gerechtigkeitsmarsch im Vorjahr hervorrief. Zudem macht sie sich für den Kriegseinsatz in Syrien stark und heißt die Verfolgung von Gülen-Anhängern und kurdischen Aktivisten gut, so daß von einer klar profilierten Abgrenzung zur AKP nicht gerade die Rede sein kann. Wer für die prokurdische HDP antreten wird, die sich der schärfsten Verfolgung Erdogans ausgesetzt sieht, und ob sie sich womöglich mit der CHP verbündet und ebenfalls eine Allianz bildet, ist noch nicht bekannt. Sie ist nur sehr eingeschränkt handlungsfähig, weil neben mehreren tausend Parteimitgliedern und mehreren Abgeordneten auch ihre Galionsfigur, der populäre ehemalige Parteichef Selahattin Demirtas, im Gefängnis sitzt. Gerüchte, wonach der frühere Staatspräsident und AKP-Mitgründer Abdullah Gül, der sich vor einigen Jahren mit Erdogan überworfen hat, für die kleine islamische Saadet-Partei antreten könnte, haben sich bislang nicht bestätigt. Die Präsidentschaftswahl ist auf zwei Runden angelegt. Vereinigt im ersten Durchgang kein Kandidat über 50 Prozent der Stimmen auf sich, erfolgt zwei Wochen später eine Stichwahl.

Erdogan will bei den Wahlen am 24. Juni sein repressives Regime auf Jahre und Jahrzehnte hinaus verrechtlichen und etablieren. Mittels einer putschartigen Machtergreifung war ihm das nicht möglich, da er sich der Unterstützung maßgeblicher Kapitalfraktionen, des Militärs, einflußreicher säkular-kemalistischer Kreise und ausländischer Hegemonialmächte wie insbesondere der USA nicht sicher sein konnte. Seine sukzessive Machtübernahme gestaltet sich als langangelegter, aber forciert vorangetriebener Prozeß, in dessen Verlauf er das nationale Kapital, die Streitkräfte, die Justiz und die Medien in Säuberungswellen zu seinen Gunsten umgebaut hat. Er hebelt die Gewaltenteilung aus, schaltet die Medien gleich, verfolgt jegliche Opposition und führt Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden diesseits und jenseits der türkischen Grenze. Daß seine Herrschaft in zunehmenden Maße diktatorische Züge annimmt, steht außer Frage. Wenn er dennoch behauptet, die Türkei sei das demokratischte Land der Welt, läßt sich dies nicht als irrationale Drift in eine Blase selbstreferentiellen Machthungers und Größenwahns oder gezielte Verhöhnung des Westens hinlänglich entschlüsseln. Nicht unterschlagen sollte man jedenfalls, daß er mit der exzessiven Anwendung des Terrorverdikts, der Verstetigung des Ausnahmezustands und der legalistischen Unterdrückung jeglicher Gegnerschaft eine sattsam bekannte Klaviatur bedient, auch wenn er ihr Klänge entlockt, die man osmanisch nennen mag, ohne doch ihre Wesensverwandtschaft mit westlichen Spielarten repressiver Staatlichkeit verleugnen zu können.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-erdoans-gegner-straucheln-1.3951514

[2] www.n-tv.de/politik/Der-Opposition-bleibt-nicht-viel-Zeit-article20393966.html

[3] www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Erdogan-zieht-Wahlen-auf-Juni-2018-vor-4027784.html?

[4] www.zeit.de/politik/ausland/2018-04/recep-tayyip-erdogan-tuerkei-wahlen

20. April 2018


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