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REPRESSION/1686: Coronakrise - Selbstermächtigung ... (SB)



Edward Snowden (...) hat sich zu Wort gemeldet. Angesichts der weltweiten Maßnahmen, die Corona-Pandemie auch mit digitalen Maßnahmen zu bekämpfen, sieht er eine akute Gefahr, dass nun Überwachungsmechanismen entstehen, die nie mehr zurückgefahren werden. Gerade die Erfahrungen aus dem NSA-Skandal zeigen, dass aus einer Krise wie den Anschlägen des 11. September staatliche Kontrollmechanismen ein Eigenleben entwickeln, die auch in einer Demokratie von der Exekutive an Parlament und Justiz vorbeigesteuert werden.
[1]

Wovor Snowdon warnt, nimmt angesichts der Coronakrise auch in Deutschland Gestalt an. Eine freiwillige Tracking-App, um Infektionsketten nachzuvollziehen, könnte ein geeignetes Mittel sein, die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen, so der Tenor einer aktuellen Debatte. Dies müsse und könne datenschutzrechtlich vertretbar sein: Entscheidende Kriterien seien die Freiwilligkeit der Nutzung, eine enge Zweckbindung, die Pseudonymisierung der Daten sowie eine Löschung, sobald die Infektionsgefahr nicht mehr gegeben ist. Zentrales Moment dieser Stoßrichtung ist die allseits beschworene Freiwilligkeit, was sich in der Formel zusammenfassen ließe, es sei am besten, wenn alle freiwillig mitmachen würden, weil dann keinerlei Zwang erforderlich wäre.

Daß der Ausbau des Überwachungsstaats zur Dystopie uneingeschränkter Kontrolle sämtlicher Bürgerinnen und Bürger unablässig mit verfügten Zwangsmaßnahmen wie auch geheimen Zugängen vorangetrieben wird, läßt sich weitreichend dokumentieren. Da dies zwangsläufig Widerstand auf den Plan ruft, weil es zahllose Gründe gibt, die reklamierte Privatsphäre vor staatlichem Zugriff zu schützen, ist für eine vollständige Durchdringung der Gesellschaft die Beteiligung der Menschen erforderlich, sich aus freien Stücken und in der alltäglichen Lebenspraxis bedenkenlos auszuliefern. Als ein Kernelement der digitalen Überwachung fungiert das Smartphone, das gleich einem technisch aufgerüsteten Körperteil überallhin mitgeführt und unablässig benutzt wird. Was als Tor zur Welt empfunden und in wachsendem Maße anderen Kontakt- und Kommunikationsformen vorgezogen wird, ist ein Einfallstor der Beobachtung und permanenten Sammlung von Daten zu fremdnützigen Zwecken.

Erkauft wird diese Freiwilligkeit mit suggerierten oder realen Vorteilen in Arbeitswelt, sozialem Umgang und Konsum, wodurch diese Sphären in zunehmendem Maße so umgestaltet werden, daß ein Verzicht auf die technische Applikation mit wachsenden Nachteilen wenn nicht gar Ausgrenzung verbunden ist. Tracking, Standortbestimmung, Kontaktanalyse und Bewertungssysteme gehören längst zum digitalen Alltag, dienen der Werbung, füttern Big-Data-Maschinen wie Google Maps und werden notorisch von sozialen Netzwerken wie Facebook oder gar den Geheimdiensten benutzt. Wo der als selbstverständlich wahrgenommene Gebrauch endet und der abgelehnte Mißbrauch beginnt, wandert wie eine Zug um Zug verschobene Grenze in die Reuse eines digitalen Netzes, dessen Maschen immer enger gezogen werden.

Wer Corona bekämpfen will, muß die Bevölkerungen lokal, national und weltweit überwachen, so die zwingend anmutende Logik des Krisenmanagements. Die Bedrohung der Pandemie für die Allgemeinheit sei so groß, daß es ethisch unvertretbar wäre, digitale Methoden nicht einzusetzen, wenn Regierungen nicht nur viele Menschenleben, sondern auch Existenzen, Arbeitsplätze, Bildungswege und blanke Nerven retten könnten, wo doch der Normalzustand damit schneller wiederhergestellt werde. Brauche die Exekutive im Mahlstrom der Pandemie digitale Instrumente, könne man sie ihr nicht verwehren: Nie war der digitale Raum so wichtig wie jetzt, nie konnte er seine Stärken so überzeugend beweisen. Zugleich fehlt es nicht an warnenden Stimmen, daß er verantwortungsbewußt gestaltet werden müsse. Gebe eine Gesellschaft in Zeiten der Not und Furcht Freiheiten, für die sie lange gekämpft habe, ohne Kontrolle auf, werde sie diese nicht automatisch wiederbekommen. Dies sei der Zeitpunkt, die lange schwelende Debatte über digitale Rechte zu führen und Konsequenzen im Sinne der Datensouveränität zu ziehen.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) ist dafür, eine Smartphone-App einzusetzen. Aufgrund der Tiefe des Eingriffs in die Privatsphäre sei die Freiwilligkeit wesentlich, wofür sie eine große Bereitschaft in der Bevölkerung sehe. Wichtig sei, Daten nur für diesen einen Zweck und nur temporär zu nutzen, da man nur so noch mehr Menschen von dieser Maßnahme überzeugen könne. Es müsse zudem geklärt werden, was im Nachhinein mit den Daten passiere. [2] Saskia Esken, Co-Vorsitzende der SPD und Informatikerin, sieht das nicht anders. Es gebe durchaus taugliche Vorschläge, deren Einsatz freiwillig wäre und durch die richtige Technik Datenschutz und Privatheit bewahre. Man könne Eingriffe in die Bürgerrechte für eine begrenzte Zeit hinnehmen, sofern sie verhältnismäßig seien und dem Ziel dienten, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. [3] Auch die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt fordert im Kampf gegen Corona die Nutzung digitaler Möglichkeiten und hält das unter hohen Datenschutzstandards für möglich. Rauszugehen, wirtschaftlich tätig zu sein und soziale Kontakte zu pflegen sei ebenso ein Freiheitsrecht wie jenes, die eigenen Daten zu behalten. [4]

Wie das funktionieren soll? Schon seit Wochen arbeiten über hundert Wissenschaftler und Ingenieure mit Hochdruck an einem entsprechenden Tool. Beteiligt sind unter anderen das Robert Koch-Institut (RKI) sowie das Fraunhofer Institut für Nachrichtentechnik (Heinrich-Hertz-Institut, HHI). Mit einbezogen werden zudem der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Ulrich Kelber, und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Die App soll freiwillig heruntergeladen werden können und den geltenden datenschutzrechtlichen Standards entsprechen. Kelber sieht keine Alternative zu einer freiwilligen Nutzung: "Wie wollen Sie in einem demokratischen Land die Nutzung einer App erzwingen? Der Staat müsste das doch auch überprüfen. Das geht doch gar nicht mit verhältnismäßigen Maßnahmen."

Die App würde über die Bluetooth-Kennung registrieren, welche anderen Smartphones mit ebenfalls installierten Anwendungen in der Nähe waren. Jeder hätte die Daten zunächst nur auf seinem Handy und könnte sie im Falle einer Infektion teilen, um alle anderen zu warnen, so Kelber. Wichtig sei, daß möglichst viele Nutzer bei ein und derselben App registriert sind, da sich andernfalls Infektionsketten nicht durchbrechen ließen. Weder dürften private Konzerne Daten über Kunden gewinnen noch staatliche Stellen die Daten für andere Zwecke verwenden. Die präsentierte App müsse alle diesbezüglichen Zweifel ausräumen, da eine freiwillige Variante nur funktioniere, wenn genügend Menschen bereit seien, sie herunterzuladen. Laut Bitkom nutzen 76 Prozent der Bundesbürger ab 16 Jahren ein Smartphone. In der Altersgruppe 65 plus sind es 40 Prozent. Mehr als die Hälfte davon, schätzen Experten, müßten die Coronavirus-App herunterladen, damit die digitale Lösung Wirkung zeigen könnte. [5]

Nach bisherigem Wissensstand erfolgt etwa die Hälfte aller Ansteckungen, bevor typische Symptome auftreten. Um die Infektionsketten zu durchbrechen, müßte man daher direkt nach einer Corona-Diagnose umgehend alle Personen kontaktieren, die sich in unmittelbarer Nähe der infizierten Person aufgehalten haben, was nur auf digitalem Wege realistisch erscheint. Dann könnte man frisch angesteckte, aber noch nicht symptomatische Personen finden und durch ihre Quarantäne verhindern, daß sie weitere Personen anstecken. Kombiniert mit einem großangelegten Testprogramm ließe sich auf diese Weise die Epidemie eindämmen, so der Ansatz. Der vorerst zurückgestellte Ansatz des Gesundheitsministers, Funkzellendaten von Mobiltelefonen zu benutzen, wäre technisch dafür nicht geeignet. Funkzellen umfassen eine Fläche von mindestens mehreren tausend Quadratmetern und sagen daher über physische Kontakte in bis zu zwei Meter Abstand, die ein Infektionsrisiko bergen, kaum etwas aus.

Es stellt sich jedoch die Frage, auf welche Weise die geforderte Datensouveränität sichergestellt werden soll. Weder das Vorbild Chinas noch das Südkoreas ist dafür geeignet. Im südkoreanischen Modell wurden neben Mobilfunkdaten auch Datenbestände von Kreditkartenunternehmen und Bilddaten von Videoüberwachungsanlagen verwendet wie auch die früheren Aufenthaltsorte infizierter Personen veröffentlicht, was zur Preisgabe sensibler (nicht krankheitsbezogener) Informationen über namentlich bestimmbare Personen führte. Damit wurde der Bevölkerung zugemutet, zur Bekämpfung der Corona-Pandemie großflächige Datenerfassungen und erhebliche Risiken für ihre Privatsphäre hinzunehmen.

Um in einer existenziellen Gefährdungslage unter mehreren gleich geeigneten Mitteln zur Gefahrenabwehr dasjenige zu wählen, das am wenigsten in Grundrechte eingreift, wird von einigen Experten eine Variante des Modells Singapurs empfohlen. Dabei hält ein Handy durch Verwendung der Technologie Bluetooth Low Energy fest, welche anderen Handys sich in unmittelbarer physischer Nähe befinden. Nur im Falle einer bestätigten Infektion sendet der Benutzer seine App-Daten an einen Server, der alle Apps der Kontaktpersonen darüber informiert. Aufgrund einer Verschlüsselung erhält der Server keinerlei personenbezogene Daten, sondern vermittelt nur zwischen Handys. Da die Wirksamkeit solcher Systeme von der Akzeptanz in der Bevölkerung abhängt, soll die datensparsame Lösung demnach auch epidemiologisch effektiver sein. Sie würde den Haupteinwand entkräften, daß die App als Vorwand für eine stärkere Überwachung nach dem Ende der Epidemie genutzt werden könnte. [6]

Wie die drei Autoren des Gastbeitrags in Netzpolitik abschließend schreiben, sei die Suche nach einer möglichst datensparsamen Lösung nicht nur ein Gebot des Grundrechtsschutzes. Sie werde vielfach sogar zur Effektivität und Effizienz des jeweiligen Datenverarbeitungssystems beitragen: "Nur ein System, dem die Menschen vertrauen können, weil es sie nicht ausspäht und sie keinen Repressalien unterwirft, birgt das Potential für eine wirklich breite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Bundesregierung muss die Menschen in Deutschland mitnehmen." Der wohlbegründete Vorschlag, wie ein am wenigsten schädliches Verfahren aussehen könnte, ruft durch diesen letztendlichen Befriedungsversuch erst recht den ursprünglichen Argwohn wach. Sollen die Menschen allen Ernstes einem System ohne jede Sorge vertrauen, daß es sie nicht unter Umständen doch ausspähen könnte? Denn die Forderung an die Bundesregierung, daß sie die Menschen in Deutschland mitnehmen müsse, ist Wasser auf die Mühlen einer Exekutive, die in der Corona-Krise insbesondere auf die widerspruchslose Akzeptanz ihrer beispiellosen Maßnahmen setzt.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/digital/handy-tracking-corona-app-ueberwachung-privatsphaere-1.4863085

[2] www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-bundesjustizministerin-handy-tracking-geht.694.de.html

[3] www.tagesspiegel.de/politik/spd-chefin-ueber-handy-tracking-in-der-coronakrise-schuert-nur-panik-daemmt-aber-die-infektionsgefahr-nicht-ein/25695544.html

[4] www.deutschlandfunk.de/massnahmen-gegen-coronavirus-ausbreitung-goering-eckardt.694.de.html

[5] www.tagesspiegel.de/politik/handy-tracking-von-corona-infektionsfaellen-app-des-robert-koch-instituts-koennte-schon-diese-woche-praesentiert-werden/25698920.html

[6] netzpolitik.org/2020/corona-tracking-datenschutz-kein-notwendiger-widerspruch/

1. April 2020


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