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REPRESSION/1716: Europas Fluchtsortierung ... (SB)



"Das sind nicht die Flüchtlinge, an die wir gewöhnt sind. Diese Menschen sind Europäer. Diese Menschen sind intelligent, sie sind gebildet. (Es sind keine) Menschen mit unklarer Vergangenheit, die vielleicht sogar Terroristen waren. Mit anderen Worten, es gibt derzeit kein einziges europäisches Land, das Angst vor der aktuellen Flüchtlingswelle hat."
Bulgariens Premier Kiril Petkow

"Ukrainische Flüchtlinge kommen aus einem Umfeld, das in einem kulturellen, religiösen und historischen Sinne etwas völlig anderes ist als jenes, aus dem Flüchtlinge aus Afghanistan kommen."
Kommunikationsbüro der Slowakei [1]


Es sollte doch nicht überraschen, dass die interessengeleitete Deutungsmacht, wer gut und wer böse sei, auch vor der Sortierung geflohener Menschen nicht Halt macht. Wer, wie eingangs zitiert, nicht zu uns gehört und sich dennoch erdreistet, nach den hiesigen Fleischtöpfen zu schielen, hat nichts zu lachen, sofern er nicht gerade auf Grund seiner Arbeitskraft oder aus propagandistischen Gründen für verwertbar erachtet wird. Wenn nun angesichts des Krieges in der Ukraine plötzlich alle Türen aufgestoßen und Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen werden, ist diesen das so sehr zu gönnen und zu wünschen, wie allen anderen Menschen, die, von Krieg, Hunger und Elend getrieben, ihr Heil in sichereren Gefilden suchen. Die aktuelle Aufnahmebereitschaft mit einer fundamentalen Kehrtwende in der EU-Flüchtlingspolitik zu verwechseln wäre indessen fatal. Eher schon korrespondiert der zügellos hervorbrechende Drang, Putin nicht etwa Gleichrangigkeit mit den imperialistischen Kriegsherren westlicher Provenienz zu attestieren, sondern als Ausgeburt der Hölle zu dämonisieren, mit den hierzulande schlagartig entfesselten Dämonen lange gärender Russophobie samt deren Pendant in Gestalt einer humanitären Euphorie, die Feinde des Feindes mit überschwänglicher Gastfreundschaft zu herzen.

Kurzum, die eintreffenden Ukrainerinnen und ihre Kinder sind in diesem Sinne allenfalls selektiv und instrumentell gemeint, wenn die Fanfaren westlicher Humanität schmetternd erklingen, während die Festung Europa anderswo ihre Wälle hochzieht und die Kriegsführung gegen fliehende Menschen forciert. Ohne die gegenwärtige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in den Durchreise- und Zielländern im Geringsten in Abrede zu stellen, mutet doch ausgesprochen trügerisch an, dass der heftige Streit um Angela Merkels "Wir schaffen das!" heute kaum mehr einer Fußnote wert zu sein scheint. Wie der russische Angriff auf die Ukraine unter Aufbietung massenhaft simulierter Amnesie zur Zeitenwende Europas erklärt wird, als habe es den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien und die Einkreisung Russlands nie gegeben, haben wir es auch an der Flüchtlingsfront mit einem propagandistischen Trommelfeuer zu tun. So geht die pogromgestimmte Hatz auf alles Russische mit einer gleichermaßen hochkochenden Woge ukrainophiler Versprechen einher, die westliche Regierungspolitik im Übrigen ebenso wenig einlösen wird wie sonstige internationale Hilfszusagen, Klimaziele oder andere vollmundige Deklarationen zur Verschleierung eigener Ränke.

Beispielloser Exodus in Mitteleuropa

Von einem beispiellosen Exodus spricht das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Wie dessen Sprecherin Joung-ah Ghedini-Williams schrieb, zeigten die vorliegenden Daten, dass binnen einer Woche Krieg in der Ukraine bereits mehr als eine Million Menschen aus dem Land geflohen seien. UNHCR-Chef Filippo Grandi forderte auf Twitter eine sofortige Waffenruhe und sprach von einer Fluchtbewegung, die in einer solchen Geschwindigkeit in diesem Jahrhundert bislang ohne Beispiel sei. Mehr als zwei Prozent der Bevölkerung der Ukraine seien bereits auf der Flucht. Das UNHCR rechnet vorerst mit bis zu vier Millionen Flüchtenden, betont jedoch, dass auch diese Zahl weit übertroffen werden könnte, sollten die Kämpfe lange anhalten. Aktuelle Prognosen sprechen inzwischen sogar von bis zu 10 Millionen Flüchtlingen.

Mit bislang mehr als 5,6 Millionen Geflüchteten ist derzeit Syrien das Land mit der umfangreichsten Flüchtlingsbewegung. Aber selbst dort soll es auf dem Höhepunkt der Bewegung im Jahr 2013 mindestens drei Monate gedauert haben, bis eine Million Menschen das Land verlassen hatten. UNHCR-Sprecherin Shabia Mantoo hatte vor wenigen Tagen gesagt, dass angesichts dieses Tempos die Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine das Land zum Ursprung der größten Flüchtlingskrise dieses Jahrhunderts machen könnten. Mit fast 700.000 Menschen haben vorerst die meisten Flüchtlinge in Polen Zuflucht gesucht, viele weitere haben sich in der Republik Moldau, in Ungarn, der Slowakei oder in Rumänien in Sicherheit gebracht. In Deutschland sind bislang offiziell gut 18.000 Geflüchtete aus der Ukraine eingetroffen. Allerdings dürfte laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen, weil an den Binnengrenzen kaum kontrolliert werde. [2]

Faeser äußerte zugleich die Hoffnung, dass es angesichts der aktuellen Situation auch Fortschritte für ein gemeinsames Asylsystem der EU geben werde. Sie setze auf ein Umdenken bei den Mitgliedsländern, dass man die Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen könne. Zuletzt hatten sich Länder wie Polen und Ungarn in Fragen einer gemeinsamen Asylpolitik quergestellt. Diesmal habe es erstmals einen europäischen Schulterschluss zwischen allen Staaten gegeben, sagte Faeser. "Ich habe kein Land erlebt, was nicht gesagt hätte, wir nehmen selbstverständlich Geflüchtete auf." Dabei spiele sicher auch die geographische Lage der Ukraine und die Nähe zur EU eine Rolle. [3]

Auch der parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag, Stephan Thomae, sieht in der Ukraine-Krise eine große Chance für Fortschritte in der gemeinsamen EU-Asylpolitik. "Eine gerechte Verteilung der in der EU ankommenden Flüchtlinge scheiterte vor allem an den osteuropäischen Visegrád-Staaten. Jetzt in der Ukraine-Krise sieht Polen, wie wichtig eine gemeinsame europäische Verteilung wäre." Auch er geht davon aus, dass vor allem dieses Land von einer Massenflucht aus der Ukraine betroffen sein wird. "Jetzt ist die Gelegenheit, die Koalition der Willigen zu schmieden, um einen gerechten Verteilungsmechanismus zu erreichen." [4]

Festung Europa lässt ausnahmsweise die Zugbrücke herunter

Beflügelt hat den rasanten Exodus die umgehende und vollständige Öffnung der Grenzübergänge in den genannten Ländern, wobei nur auf ukrainischer Seite Menschen an der Flucht gehindert wurden. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen weder allein noch mit ihren Familien das Land verlassen, da sie zu dessen Verteidigung eingezogen werden. Beschleunigt wurde die Ausreise der Frauen und Kinder durch den Einsatz von Sonderzügen, die kostenlos genutzt werden können. Dem Beispiel der Bahnen aus der Slowakei, Polen und Tschechien folgend erlaubt auch die Deutsche Bahn Flüchtenden aus der Ukraine die kostenlose Weiterreise per Fernzug nach Deutschland. Statt einer Fahrkarte muss lediglich der ukrainische Pass vorgezeigt werden. [5]

Inzwischen können Flüchtlinge in rund 40 internationalen Fernzügen über Polen, Österreich und Tschechien nach Deutschland einreisen. Zwischen Frankfurt (Oder) an der polnischen Grenze und Berlin werden zusätzlich Pendelzüge eingesetzt, die sechsmal täglich verkehren. Für die Weiterreise können Flüchtlinge den Gratisfahrschein "helpukraine" erhalten, zudem stehen ihnen vorerst auch alle Verkehrsmittel des Schienennahverkehrs in Deutschland kostenlos zur Verfügung.

Neben Grenzöffnung und Transport zeugt insbesondere eine weitreichende administrative Initiative auf EU-Ebene davon, wozu deren Flüchtlingspolitik im positiven Sinne fähig ist, sofern sie dies im Ausnahmefall für ideologisch opportun erachtet. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt eine unbürokratische Aufnahme vor, wozu der befristete Schutzmechanismus aktiviert werden soll. Die sogenannte Massenzustromrichtlinie gewährt ohne langes Asylverfahren Menschen für mindestens ein Jahr Schutz, wobei die Maßnahme auf drei Jahre verlängert werden kann und Flüchtlingen gleiche Rechte wie etwa den Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildung in jedem EU-Mitgliedsland gewährt. Unabhängig davon steht es ihnen frei, ein Asylverfahren zu durchlaufen. Die Richtlinie wurde mit der erforderliche Mehrheit von 15 Ländern mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung beschlossen.

Die Richtlinie soll angewendet werden, wenn es möglicherweise so viele Asylanträge gibt, dass das Standardprozedere zu negativen Auswirkungen bei der Bearbeitung führen könnte. Sie ist eine Folge der Kriege in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien, wurde bislang jedoch noch nie genutzt - auch nicht während der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016. Die Türen zu öffnen, geflohene Menschen unkontrolliert einreisen zu lassen und ihnen überdies ein befristetes Aufenthaltsrecht samt Zugang zur Integration zu gewähren war aus Perspektive einer europäischen Abschottungspolitik zuvor undenkbar und wird es in allen anderen Fällen wohl auch weiterhin bleiben.

Zweierlei Maß im Umgang mit Flüchtlingen

Während in Deutschland oder Polen die Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen hohe Wellen schlägt, werden geflohene Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze schlichtweg vergessen. Dort harren seit Monaten ebenfalls Frauen und Kinder in Eiseskälte in den Wäldern aus, da ihnen polnische Soldaten die Einreise verweigern. Im Januar meldete die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) schon 21 Kältetote. Polnische Behörden verweigerten MSF den Zutritt zur Grenzregion, wo die Geflüchteten medizinisch versorgt werden sollten. Zahlreiche Berichte zeugen von Gewalt gegenüber diesen Menschen, von Diebstahl und Zerstörung des Eigentums und Einschüchterungen bis hin zu körperlichen Übergriffen.

Die meisten dieser Geflüchteten kamen aus dem Nahen Osten, darunter viele Eziden aus dem Nordirak, die vor Erdogans Bombardierungen im Shengal-Gebiet, ihrem angestammten Siedlungsgebiet, geflohen sind. Die religiöse Minderheit wurde 2014 Opfer eines Völkermords durch den Islamischen Staat. Seither leben viele Eziden noch immer unter ärmlichsten Verhältnissen in Flüchtlingscamps und sind in der Region den türkischen Drohnenangriffen schutzlos ausgeliefert, weil sich weder die Türkei-treue, konservative kurdische Regierung des Nordiraks noch die irakische Regierung mit den Eziden über einen Status zur Verwaltung dieser Region mit den seit 2014 entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen einigen will.

Seit 2015 massenhaft Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak nach Europa kamen, weigert sich die polnische Regierung, Geflüchtete aus dem Nahen Osten aufzunehmen. Appelle des Europarats oder der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden ignoriert. Wenngleich Polen nun seine Grenze für ukrainische Geflüchtete öffnet, werden auch dabei oftmals Menschen ohne ukrainischen Pass an der Einreise gehindert. Bei Staatsangehörigen afrikanischer oder asiatischer Länder, die sich beispielsweise zu Studienzwecken in der Ukraine aufhielten, wird trotz des herrschendes Krieges das fehlende Visum für Polen als Vorwand geltend gemacht, um sie abzuweisen. [6]

In den Sozialen Medien sind Videos aufgetaucht, die eine rassistisch motivierte Zurückweisung flüchtender afrikanischer Staatsbürger durch ukrainische und polnische Grenzbehörden zeigen sollen. Die Vertreterin des südafrikanischen Außenministeriums, Clayson Monyel, schrieb auf Twitter, ihnen sei an der polnischen Grenze übel mitgespielt worden. Nigerias Regierungssprecher Shehu forderte die Ukraine auf, alle Kriegsbetroffenen mit der gleichen Würde zu behandeln und niemanden zu bevorzugen. Der polnische Grenzschutz sah sich gezwungen, die Berichte zu dementieren und behauptete, er helfe allen, ohne dass dabei die Staatsangehörigkeit oder Nationalität eine Rolle spiele. [7]

Wer angesichts solcher Widersprüche gleiches Recht für alle einfordern möchte, sieht sich damit konfrontiert, dass auch Völker- und Menschenrecht einer staatlichen oder überstaatlichen Gewalt bedürfen, um sie geltend zu machen und durchzusetzen, also nicht jenseits der Machtfrage wirksam werden. Letztendlich bleibt überlegene Waffengewalt das Fundament, auf dem Menschenrechtskriege geführt, Tribunale etabliert und Kämpfe um Deutungsmacht entschieden werden. So verlockend es also anmuten mag, deutsche und europäische Flüchtlingspolitik an ihrem eigenen Anspruch zu messen, wie er nun im Falle des Ukraine-Kriegs breit ausgefahren wird, sollte man sich zumindest nicht selber im Fehlschluss verheddern, dies alles für bare Münze hehrer Humanität zu nehmen.

Deutsch-türkische Kollaboration geht über Leichen

Die jeweils herrschende Staatsräson selektiert, was anzuprangern und was geflissentlich zu ignorieren sei. Für den NATO-Staat Türkei gelten grundsätzlich andere Maßstäbe als für Russland, bombardiert und okkupiert das Erdogan-Regime doch ungestraft Regionen in den Nachbarländern Syrien und Irak, ohne dass in Berlin oder Brüssel Sanktionsdrohungen auch nur in Erwägung gezogen würden. Wenn die kurdische Selbstverwaltung zerschlagen werden soll, geschieht dies mit Billigung der westlichen Mächte, die türkische Militäroperationen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung akzeptieren. Dass Erdogan Kurdinnen und Eziden, oppositionelle Politiker und Journalistinnen, kurz jedwede halluzinierte oder tatsächliche Gegnerschaft mit dem Terrorverdikt überzieht, hindert deutsche Behörden und Gerichte nicht im Mindesten daran, sich bei Bedarf dieser Auffassung anzuschließen, ihr also die rechtsstaatliche Weihe zu verpassen.

Geht es um die türkische oder kurdische Linke wie insbesondere die in Deutschland illegalisierte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), werden härteste Bandagen angelegt und politische Gefangene gemacht oder Abschiebungen exekutiert. Im Schatten des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine forcieren deutsche Behörden solche Abschiebungen ungeachtet härtester Repression in der Türkei. Dies droht Muhammed Tunc aus Ulm, der in eine Auseinandersetzung mit türkischen Nationalisten beziehungsweise Mitgliedern der verbotenen rockerähnlichen Gruppierung "Osmanen Germania" geraten war. Durch eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung können auch in Deutschland geborene ausländische Staatsbürger wie er ihre Aufenthaltsberechtigung verlieren. Trotz handfesten Drohungen aus türkischen Nationalistenkreisen im Online-Netzwerk Instagram soll Muhammed Tunc abgeschoben werden, was zuletzt zweimal erst im letzten Augenblick verhindert werden konnte.

Abschiebung droht auch Abdulkadir Oguz, Mitglied der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und in der Türkei zu 25 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) erkennt zwar in seinem Ablehnungsbescheid an, dass Oguz bei seinen früheren Festnahmen von der türkischen Polizei gefoltert wurde, hält aber nicht für wahrscheinlich, "dass der Antragssteller erneut von Folter betroffen sein wird".

Esra Yakar, die 2014 in Diyarbakir Medizin studierte, hatte sich nach Angaben ihres Rechtsanwalts im Zuge der Schlacht gegen den IS um Kobanê freiwillig gemeldet, um im Grenzgebiet als Sanitäterin Hilfe zu leisten. Dort wurde sie von mehreren Granatsplittern getroffen und verlor ihr rechtes Auge. Dennoch wurde sie in der Türkei wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen bewaffneten Organisation" inhaftiert und angeklagt, da sie laut Anklage selbst Mitglied der Frauenverteidigungskräfte YPJ und somit einer PKK-Teilorganisation gewesen sei. Sie wurde in einem Prozess, der ihrem Anwalt zufolge den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nach der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht, zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. 2018 gelang ihr die Flucht nach Deutschland. Ihren Asylantrag lehnte das BaMF mit der Begründung ab, dass aus dem türkischen Urteil hervorgehe, sie sei Mitglied einer bewaffneten terroristischen Vereinigung gewesen. Eine "Verfolgungshandlung" will das Bundesamt nicht erkennen. Über ihren Asyl-Folgeantrag will das Verwaltungsgericht Stuttgart am 25. März verhandeln.

Einen Folgeantrag hat auch der Anwalt von Heybet Sener gestellt, der am 4. Februar ebenfalls schon zur Abschiebung auf den Flughafen München gebracht worden war. In seinem Fall hatte sich der zuständige Arzt geweigert, den erforderlichen Covid-19-Test unter Zwang durchzuführen, während mehrere Dutzend Menschen an Ort und Stelle gegen die Abschiebung protestiert hatten. [8] Die deutsch-türkische Kollaboration, so steht zu befürchten, ist auch in diesen Fällen sehenden Auges bereit, über Leichen zu gehen.

Ampelkoalition simuliert Paradigmenwechsel

An großen Worten mangelt es der Ampelkoalition nicht. Man wolle sich für einen "Paradigmenwechsel" in der Asyl- und Migrationspolitik stark machen. "Willkommenskultur" statt Abschreckung und Bürokratie kündigen SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag an. Konkret bedeutet das: Asylbewerber sollen in Zukunft deutlich einfacher einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen, alle Flüchtlinge sollen in Zukunft ihre Familie nach Deutschland nachholen dürfen und auch der Weg zur Staatsbürgerschaft soll kürzer werden. Außerdem sollen illegale Push-Backs an den EU-Außengrenzen verhindert werden. [9]

Dass auch die neue Bundesregierung im Fahrwasser repressiver Flüchtlingsabwehr schwimmt, jedoch gewisse Justierungen zu deren Perfektionierung vorzunehmen trachtet, unterstrich Bundesinnenministerin Faeser bereits im Februar. Sie drängt unter anderem auf eine Screening-Verordnung der EU, die eine Identitätsfeststellung, medizinische Untersuchung, Erfassung biometrischer Daten und Sicherheitsabfrage direkt an der Außengrenze beinhalten soll. Entscheidend sei doch zu erfassen, wer die Europäische Union betritt, und die "Sekundär-Migration" zurückzudrängen.

Der Wunsch nach präziserer Selektion in erwünschte und unerwünschte Flüchtlinge kommt auch im "Chancen-Aufenthaltsrecht" zum Ausdruck, das die Ampelkoalition schaffen will. Gut integrierte Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus wie etwa einer Duldung sollen künftig eine Bleiberecht-Perspektive in Deutschland haben. Anstelle der bislang üblichen Kettenduldungen sollen künftig Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen.

Laut SPD, Grünen und FDP geht es um mehr als 60.000 Menschen, die 2015 oder 2016 nach Deutschland kamen, deren Asylanträge aber abgelehnt wurden. Unternehmer, Handwerksmeister und Bürgermeister klagten darüber, dass die Falschen abgeschoben würden. Gefährder und Straffällige werde man oft nicht los, dafür würden gut integrierte Familien abgeschoben oder junge Menschen mit Arbeitsplatz und Deutschkenntnissen, die sich an die Gesetze hielten. Da das widersinnig sei, gelte es eine sinnvollere Regelung zu schaffen.

Da die Koalitionäre jedoch noch keinen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt haben, fordern NGOs immer dringlicher, Abschiebungen von Menschen, die unter diese neue Regelung fallen würden, einstweilen auszusetzen. Bis dato können Menschen, die die Kriterien erfüllen, noch abgeschoben werden, was auch immer wieder geschieht. Demgegenüber könnten die Landesregierungen mit einem "Vorgriffserlass" den Ausländerbehörden einen Weg eröffnen, vorerst von einer Abschiebung abzusehen. [10]

Davon abgesehen setzt die Ankündigung des Koalitionsvertrages, irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen zu wollen, lediglich das Vorhaben Angela Merkels fort, "illegale" durch "legale" Migration zu ersetzen. Die Stoßrichtung bleibt dieselbe, soll aber verfeinert werden: Abschöpfung verwertbarer Arbeitskraft effektiver gestalten, Zurückweisung und Abschiebung für unbrauchbar erklärter Flüchtlinge schärfen. Dass künftig alle Asylsuchenden zeitnah Anträge stellen können, die Seenotrettung nicht behindert wird und Push-Backs unterbleiben, dürfte sich als Wunschdenken oder aber gezielt abgefeuerte Nebelkerze der Ampelkoalition erweisen.

Abschotten und abschieben lautete denn auch die Agenda einer zweitägigen "Rückführungskonferenz", die ebenfalls noch im Februar in der Wiener Hofburg stattfand. Auf Einladung der für ihre restriktive Migrationspolitik bekannten österreichischen Regierung waren Minister aus 23 Schengen- und Westbalkanstaaten, Vertreter der EU-Grenzschutztruppe Frontex und weiterer EU-Behörden sowie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zusammengekommen.

Der rechtskonservative österreichische Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) und seine deutsche Amtskollegin Nancy Faeser demonstrierten Einmütigkeit. Es gebe beim Thema Migration viel mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes, betonte Karner. "Beispielsweise ein robuster Außengrenzschutz, konsequente Rückführungen, strategische Kooperationen mit Drittstaaten, schnellere Verfahren sowie der Kampf gegen Schlepper." Einen Zaun um Europa zu ziehen, schloss er nicht aus, und um innereuropäische Reisefreiheit zu gewährleisten, seien zudem polizeiliche Maßnahmen wie die Schleierfahndung notwendig.

Es gelte, Migration zu gestalten und irreguläre Migration zu reduzieren, ergänzte Faeser, weshalb sie die Rückführungskonferenz "ganz stark" unterstütze. Es brauche ein gemeinsames europäisches Vorgehen, ein krisenfestes Asylsystem und eine enge Kooperation bei Rückführungen. Ziel sei es, der "Schlepperkriminalität" die "Geschäftsgrundlage" zu entziehen, betonte sie, als trage nicht gerade die bis nach Nordafrika und die Türkei vorverlagerte Abschottungspolitik maßgeblich dazu bei, aus Fluchthilfe ein lukratives Geschäft zu machen.

Ein Schwerpunkt der "Rückführungskonferenz" bestand darin, die als Transitroute für Flüchtende dienenden Westbalkanländer durch die "operative Umsetzung von Rückführungen" in die Migrationsabwehr einzubinden. Österreich unterstütze Bosnien und Herzegowina mit der Fortbildung von Beamten und der Beteiligung an Charterflügen für Abschiebungen sowie der "Vermittlung von Know-how, um alle rechtsstaatlichen Standards einzuhalten", berichtete Karner. Und im Koalitionsvertrag der Ampel ist explizit eine "Rückführungsoffensive" festgeschrieben. [11]

Heiße Luft bewältigt die humanitäre Krise nicht

Nun ließe sich immerhin geltend machen, dass zumindest die Flüchtlinge aus der Ukraine mit aller gebotenen Zuwendung und unverzichtbaren Umsicht empfangen und versorgt würden. Ob das jedoch tatsächlich der Fall ist, sollte ungeachtet der überschäumenden Willkommensattitüde mit einem gehörigen Fragezeichen versehen werden. Denn offenbar wird auf der Ebene westeuropäischer Flüchtlingspolitik das Ausmaß der dabei zu bewältigenden Probleme kleingeredet und die Hoffnung geschürt, dass sich alles fast wie von selbst regeln werde. So rechnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trotz der enormen Fluchtbewegungen bislang nicht mit besonders großen Herausforderungen für Deutschland. Aufgrund der "überwältigenden Aufnahmebereitschaft" der ukrainischen Grenzenstaaten gehe man derzeit davon aus, dass der größte Teil der Kriegsflüchtlinge dort bleiben werde, sagte ein Sprecher des Bundesamtes. Dieser Einschätzung zufolge wollen sich die meisten geflohenen Menschen nicht weit von ihrer Heimat entfernen, um möglichst bald wieder dorthin zurückzukehren. Deshalb werde ohnehin Polen die Hauptlast tragen und müsse eben finanziell unterstützt werden. Zudem würden die Ukrainerinnen vielerorts von Landsleuten aufgenommen oder aber von der Zivilgesellschaft betreut.

Da die Flüchtlinge frei wählen können, wo sie innerhalb der EU bleiben wollen, kann von der ansonsten immer wieder eingeforderten und zugleich heftig umstrittenen politischen Steuerung eher nicht die Rede sein. Wie Faeser betont, sei ein Verteilungsschlüssel zwar möglich, aber nicht erforderlich, da die Aufnahme ausgezeichnet funktioniere. Die Menschen gingen dorthin, wo sie viele Freunde, Verwandte und Bekannte hätten, also beispielsweise in Länder wie Spanien und Italien mit ihren großen ukrainischen Communitys. Auf diese Weise würden sich die Flüchtlinge recht breit verteilen. Zudem komme eine große Hilfsbereitschaft der deutschen Kommunen zum Tragen, die sehr gut damit umgehen könnten, wenn jetzt Geflüchtete vermehrt aus der Ukraine kämen. Diese Aussagen der Bundesinnenministerin erwecken den Eindruck, als bedürfe es über die Massenzustromsrichtlinie hinaus absehbar gar keiner besonderen politischen Lenkwirkung.

Vor Ort in Berlin, wo die allermeisten ukrainischen Flüchtlinge, die nach Deutschland weiterreisen, erst einmal ankommen, hört sich das schon erheblich dramatischer an. Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) sprach von einer unfassbaren Dimension der größten Flüchtlingsbewegung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg "mit einer ganz eigenen und schnellen Dynamik". Exakte Zahlen über die bereits in Berlin eingetroffenen Flüchtlinge gebe es nicht, zumal viele privat mit Autos kämen und von Verwandten abgeholt würden. Auch bei Bahnreisenden wisse man zunächst nicht, wie viele von ihnen bleiben und untergebracht werden müssten. Der Senat habe bislang von mindestens 20.000 Flüchtlingen in der Hauptstadt gesprochen, doch müsse sich Berlin auf deutlich mehr einstellen.

Die Mehrzahl der Menschen, die in Berlin aus dem Zug stiegen, werde nach wie vor privat untergebracht. Bislang habe jeder für die Nacht ein Bett und etwas zu essen bekommen, so Kipping. Viele Flüchtlinge wollten gar nicht in Berlin bleiben, sondern zum Teil in andere europäische Großstädte wie Amsterdam, London oder Paris weiterreisen. Dennoch drängt die Senatorin auf ein schnelles Engagement des Bundes bei der Koordination zur Aufnahme der Flüchtlinge. Da die ukrainischen Kriegsflüchtlinge nicht über das Asylverfahren registriert werden sollen, müsse es ein analoges Verteilverfahren geben. Bilaterale Absprachen mit einzelnen Bundesländern liefen bislang zwar reibungslos, doch ersetzten sie nicht die Verantwortung des Bundes.

Ganz offensichtlich befürchtet Kipping angesichts weiter wachsender Zahlen in Berlin eintreffender Kriegsflüchtlinge eine Überlastung vorhandener Kapazitäten zur Unterbringung und Versorgung. Alle Flüchtlinge sollten zunächst zum Ankunftszentrum in Reinickendorf kommen, weitere große Orte wie Messe, ICC, Tegel oder Tempelhof seien angedacht, auch gebe es viele Angebote von privater Seite. Zudem habe die Wirtschaftsverwaltung mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga über Übernachtungsmöglichkeiten für Flüchtlinge gesprochen. Die Unterbringung sei eine enorme Kraftanstrengung, warnt Kipping: "Wir schaffen jetzt Unterkunftsplätze, was das Zeug hält." [12]

Bundesinnenministerium und Arbeitsministerium haben sich darauf geeinigt, dass ukrainische Flüchtlinge für ihren Unterhalt ähnliche Leistungen wie Asylbewerber erhalten und somit keinen direkten Anspruch auf Hartz IV haben. Anders als Asylsuchende sollen sie aber sofort Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben, da ihre Aufenthaltserlaubnis das Recht beinhaltet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Der Deutsche Städtetag plädiert dafür, den aus der Ukraine flüchtenden Menschen einen Zugang in die Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II zu ermöglichen, da damit viele Fragen zur sozialen Sicherung und Gesundheitsversorgung geklärt wären. Die Kosten der Grundsicherung trägt zum Großteil der Bund. [13]

Angesichts des Angriffs auf die Ukraine hat westlicherseits niemand Probleme damit, offen von einer humanitären Krise "von historischem Ausmaß" zu sprechen. Allerdings verschleiert der vielbeschworene Schulterschluss gegen die russische Aggression den eklatanten Mangel an angemessenen Strukturen zur Aufnahme, Versorgung und Integration geflohener Menschen, da deren Abschreckung stets zu den zentralen Elementen der Flüchtlingspolitik gezählt hat. Sind in nur einer Woche mehr als eine Million Menschen in westlicher Richtung geflohen, stehen künftig noch weitaus mehr zu erwarten. Bald dürften die privaten Aufnahmemöglichkeiten zur Neige gehen und improvisierte Massenunterkünfte mit all ihren gravierenden Einschränkungen erforderlich sein. Jahrzehnte feindseligen Umgangs mit asylsuchenden Menschen lassen sich nicht mit vollmundigen Hilfsversprechen im Handstreich aus der Welt schaffen, nur weil dies gegenwärtig politisch opportun erscheint.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/421705.krieg-in-der-ukraine-eu-jetzt-mit-herz.html

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukrainekrieg-fluechtlinge-million-101.html

[3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/ukraine-fluechtlinge-deutschland-polen-russland

[4] https://www.deutschlandfunk.de/interview-innenministerin-nancy-faeser-zu-fluechtlingslage-100.html

[5] https://www.n-tv.de/politik/14-33-Russischer-Mega-Militaerkonvoi-kommt-nicht-voran--article23143824.html

[6] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Lost-in-der-Ukraine-Krise-6529398.html

[7] https://www.deutschlandfunk.de/wie-das-thema-flucht-die-welt-nach-dem-russischen-angriff-auf-die-ukraine-herausfordert-100.html

[8] https://www.heise.de/tp/features/Abschiebungen-ins-autoritaere-Nato-Partnerland-6525678.html

[9] https://www.focus.de/politik/deutschland/der-meinungsueberblick-powered-by-buzzard-fluechtlingspolitik-der-ampel-wie-experten-und-medien-den-wechsel-bewerten_id_24515310.html

[10] https://www.deutschlandfunk.de/migration-duldung-chancen-aufenthaltsrecht-bleibeperspektive-deutschland-ampel-regierung-gesetz-100.html

[11] https://www.jungewelt.de/artikel/421206.festung-europa-pakt-der-hardliner.html

[12] https://www.zeit.de/news/2022-03/03/ukraine-fluechtlinge-kipping-fordert-schnelle-hilfe-vom-bund

[13] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-krieg-fluechtlinge-101.html


7. März 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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