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KULTUR/0856: Google Street View ... die panoptische Ermächtigung gilt dieser Welt (SB)



Die Aufregung über die Entscheidung des Suchmaschinenkonzerns Google, seinen Dienst Street View lediglich mit einer Widerspruchsfrist zu versehen, anstatt denjenigen, die eine Ansicht ihres Hauses oder Gebäudes nicht im Internet verfügbar machen wollen, die permanente Möglichkeit anzubieten, dies zu verhindern, ist allemal berechtigt. Das ultimative Auftreten Googles symbolisiert einen Kulturbruch, anhand dessen vielen Menschen vielleicht zum ersten Mal der übergreifende Charakter des digitalen Wirklichkeitspostulats klar wird. Die von Google Street View produzierte Sichtbarkeit ist eben kein Äquivalent zur Realität gegenständlicher Wahrnehmung. Diese ist auf die sinnlich erfaßbare Umgebung des Betrachters beschränkt, der über das Netz verfügbar gemachte Einblick in öffentliche Räume hingegen gleicht eher einer zentralisierten Verwaltungsstruktur, mit der administrative Kontrolle auf panoptische Weise gesichert wird.

Der Betrachter setzt sich nicht der Möglichkeit aus, vom Objekts seiner Blicke selbst ins Auge gefaßt zu werden, sondern löst sich in der Ungreifbarkeit der informationstechnischen Apparatur zur Instanz permanenter Observation auf. Die schlichte Gleichsetzung virtueller und physischer Realität unterschlägt den strategischen Vorteil, den der unsichtbare Betrachter genießt, wenn er nach Belieben Orte erkundet, ohne daß die dort lebenden Menschen irgend etwas davon mitbekämen [1]. Dabei geht es nicht nur um die Gefahr, von Einbrechern ausgekundschaftet oder von Kreditunternehmen evaluiert zu werden. Mit der Verdopplung des öffentlichen Raumes in Digitalien wird ein Mißverhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem verallgemeinert, das letzterer aus gutem Grund als unzulässige Übervorteilung versteht.

Wenn der Blogger Sascha Lobo zugunsten von Street View konstatiert, daß die Menschen "ein Recht darauf" hätten, "Fassaden von Häusern angucken zu können" [2], dann geht er von einem Rechtsverständnis aus, das vor der technologischen Innovation der weltweit vernetzten Datenkommunikation geprägt wurde. Selbst wenn Digitalien von allen Menschen gleichermaßen begehbar wäre, was nicht der Fall ist, erfordert der damit zu erlangende Informationsvorteil regulative Eingriffe zur Verhinderung mißbräuchlicher Verwendung. So hat jeder Mensch das Recht, andere Menschen auf der Straße anzugucken. Die Verabsolutierung dieses Rechtes kollidierte jedoch mit soziokulturell geprägten Distanzgeboten, deren Überschreitung Konfrontationen auslösen kann, die bis zur Anwendung körperlicher Gewalt eskalieren können.

Von einem Kulturbruch muß schon deshalb die Rede sein, weil die Grenze zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum längst nicht mehr durch die Wände der eigenen Wohnung gebildet wird. Die Erfassung des Bürgers und Verbrauchers durch zahlreiche elektronische Regististrierungsvorgänge überlagert diese Trennung so sehr, daß die fremden Augen, deren Blick sich an diesen Wänden bricht, in ihrer bedrohlichen Qualität längst durch andere Agenten fremden Informationshungers relativiert wurden. Das Innere wird nicht nur nach außen gekehrt, die ganze Topographie konkret voneinander getrennter Sphären fremden Zugriffs ist in Frage gestellt. Die sich mit diesen Achsen räumlich ins Verhältnis setzende Subjektivität ist dementsprechend entgleist und fördert eine Vergeblichkeit zutage, die in grotesken Deformationen gescheiterter Anpassung an die unerreichbaren Ideale dieses Strukturwandels manifest werden.

Die Eingriffstiefe behördlicher Ermittlungsorgane ist begrenzt, um das staatliche Gewaltmonopol nicht zu einer absolutistischen Monstrosität geraten zu lassen. Warum also sollten kommerzielle Ziele verfolgende Konzerne für jeden nutzbare Observationsstrukturen aufbauen können, über die früher nur Sicherheitsbehörden verfügten? Von einer emanzipatorischen Entwicklung im Sinne eines Ausgleichs verfügbarer Mittel zwischen Bürger und Staat kann ohnehin keine Rede sein, werden die Kamerawagen Googles doch gar nicht erst in sicherheitsempfindliche Bereiche hereingelassen. Zu befürchten steht viel mehr, daß die von Google akkumulierten Informationsmengen auf diese oder jene Weise für repressive Zwecke eingesetzt werden.

Das gilt nicht nur für die Geheimdienste autoritär regierter Staaten, die sich über diese Erweiterung ihrer Möglichkeiten nur freuen können. Mit der extensiven Erfassung individueller Nutzerdaten durch Google und andere Internetdienste entsteht ein Fundus an potentiell nutzbarem Wissen über den einzelnen Menschen, das in Korrelation mit allgemeinen Informationen über den öffentlichen Raum und anderen Datenquellen neue Horizonte der Überwachung erschließt. Dabei wird gerne vergessen, daß Google Street View nur ein Schritt auf dem Weg zur totalen datentechnische Durchdringung menschlicher Lebenswelten ist. Das liberale Credo von der wohltuenden und menschenfreundlichen Wirkung der Freisetzung vermeintlichen selbstregulativer Marktkräfte unterschlägt nicht umsonst, daß sie auf gewaltbewehrten Strukturen des Eigentumsrechts und der staatlichen Souveränität aufbauen. Diese überblenden das Primat des Stärkeren mit einem zivilisatorischen und legalistischen Schein, der ihm nichts von seiner Brutalität nimmt. So, wie die Verabsolutierung des Marktes Millionen Menschen vom Erhalt lebenswichtiger Güter ausschließt, so erzeugt die Deregulation panoptischer Strukturen Ohnmacht überall dort, wo man sich ihrer nicht bedienen kann oder will.

Wo der totale Zugriff auf den Menschen im Falle brutaler Gewaltregimes einhellig verurteilt wird, frönt man in der offenen Gesellschaft liberaler Demokratien gegenüber Herrschaftsinteressen einer Naivität, die geradezu systematisch angelegt erscheint. Natürlich ist eine Bundesregierung, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung den autoritären Sicherheitsstaat errichtet, unglaubwürdig, wenn sie im Falle von Google Street View Datenschutzbedenken geltend macht. Gerade weil ihr eigenes Kontrollsystem droht, durch besonders offensive Maßnahmen der Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen zu werden, kehrt sie bürgerrechtliche Bedenken heraus, die ihm im Wege stehen. Das eine Übel mit dem anderen zu begründen, um sich am Ende in alle Richtungen auszuliefern, ist jedoch die denkbar schlechteste Möglichkeit.

Anstatt den öffentlichen Raum über die bereits vorhandenen Strukturen seiner Erfassung in eine Informationsressource zur optimierten Verwertbarkeit zu verwandeln, gilt es, die dabei aufkommende Unruhe in emanzipatorischem Sinne produktiv zu wenden. Die starke öffentliche Reaktion auf den Vorstoß Googles zeigt, daß die Menschen allmählich ahnen, welch weitreichende Auswirkungen das Vergesellschaftungsparadigma des "kognitiven" Kapitalismus auf sie zeitigt. Der sich über ihre Einspeisung in die informationstechnischen Systeme artikulierende Zugriff tritt desto aggressiver als fremdnütziges Interesse hervor, als der persönliche Vorteil, den der allgegenwärtige Zugriff auf Wissensressourcen aller Art verheißt, auf gegenteilige Weise wahr wird. Die schlichte Überforderung, der global beschleunigten Informationsproduktion einen Nutzen abzugewinnen, der über das bloße Vorstadium des Selektierens und Sortierens hinausgeht, die durch ständige Erreichbarkeit erwirtschaftete Verfügbarkeit der eigenen Lebenszeit durch andere, die Degradierung des physischen Daseins zu einem in seiner Trägheit eher lästigen Anhängsel mikroelektronisch prozessierter Wechselverhältnisse, die Erhöhung der Ausbeutungsintensität durch die informationstechnisch rationalisierte Produktivkraftentwicklung - all das sind Entwicklungen, für die die betroffenen Menschen kaum Worte finden, sich ihrer zu erwehren, geschweige denn zu ermächtigen.

Insofern ist Google Street View nur ein Merkmal panoptischer Innovation von mehreren, das allerdings anhand der durch die Straßen kreuzenden Kamerawagen auf greifbare Weise dingfest zu machen ist. Indem diese die persönliche Lebensumgebung in die virtuelle Welt spiegeln, um sie dort auf geisterhafte Art permanent begehbar zu machen, täuschen sich die davon betroffenen Menschen nicht in ihrem Gefühl, daß ihnen damit etwas geraubt wird. Die Kontrolle über den sie umgebenden Raum wird zur Disposition einer numinosen Instanz gestellt, von der im Zweifelsfall nichts gutes zu erwarten ist.

In einer Welt, in der das Verwertungsdiktat keinen Stein unumgedreht läßt, um nicht doch noch einer bislang verborgenen Reichtumsressource habhaft zu werden, weiß der Mensch instinktiv, daß dem Beutemachen das expansive Erschließen neuer Jagdgründe vorausgeht. Wer dieses Ressentiment als überkommenes Element archaischen Territorialverhaltens verwirft, will sich nicht eingestehen, daß die kapitalistische Landnahme im ersten Schritt territorial war und ist, bevor sie mit dem informationstechnischen und biopolitischen Zugriff auf Körper und Geist des Menschen komplexere Werkzeuge verwertungsorientierter Zurichtung entwickelt. Das System, auf das sich Lobo und andere stützen, wenn sie Digitalien als eine zumindest gleichartige, wenn nicht bessere Parallelwelt anpreisen, wäre nicht so überlebensfähig, wenn es den virtuellen Raum nicht längst seinen Zwecken und Zielen unterworfen hätte.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0842.html

[2] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1028220

18. August 2010