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KULTUR/0877: Herrenmenschen - Broder und Sarrazin präsentieren deutsche Befindlichkeiten ... (SB)



Auf Henryk M. Broder ist Verlaß. Angesichts der Verlegung einer an der London School of Economics (LSE) geplanten Diskussionsveranstaltung mit ihm und Thilo Sarrazin in ein benachbartes Hotel überzog er den imperialen Stolz Britanniens mit Hohn und Spott: "Erstaunlich, dass die Briten die Schlacht von El-Alamein gewonnen haben. Heute würden sie ihre Teilnahme absagen, aus Angst, die Gefühle der Moslems zu verletzen." [1] Zweifellos war die Absage der Veranstaltung durch die Leitung der Hochschule aus Sicherheitsgründen, angeblich hervorgerufen durch Proteste aus der Studentenschaft, Wasser auf die Mühlen einer neokonservativen Apologie, die die Freiheit der Rede mit nicht minder vehementen Furor einfordert, als sie die Verschleppung und Folterung angeblicher Terrorverdächtiger wie die Heimsuchung anderer Länder mit Bomben und Granaten als unabdingliche Voraussetzung der Durchsetzung eigener Werte gutheißt.

So oder so wächst in diesem Schaufenster deutscher Befindlichkeiten zusammen, was zusammen gehört. Kaum eine Woche nach der Kampfansage des britischen Premierministers David Cameron an die nichtweißen Bürger Britanniens und der EU [2], über deren Stoßrichtung auf der Münchner Sicherheitskonferenz und vor dem Hintergrund eines vielbeachteten Aufmarschs der nationalistischen English Defence League (EDL) kein Zweifel aufkommen konnte, sollten Broder und Sarrazin zur Eröffnung einer deutschen Woche an der LSE das Fragezeichen im Titel der Veranstaltung "Europas Zukunft - 'Niedergang des Westens?'" in ein Ausrufezeichen verwandeln. Daß Hellmuth Karasek ihnen sekundieren durfte und und diesem Vorzeigetrio neuen deutschen Herrenmenschentums der nicht minder herrschaftlich gesonnene "Spiegel"-Journalist Jan Fleischhauer als Stichwortgeber diente, wies dem Vorsitzenden des Islamrates Deutschland, Ali Kizilkaya, die Rolle eines Schlachtopfers zu, das in dieser Runde bestenfalls mit defensiver Schadensbegrenzung überleben konnte.

Fleischhauers Loblied auf den Kapitalismus und das Hotel Hilton als Refugien der Redefreiheit mündete denn auch folgerichtig in die Glorifizierung militärischer Stärke, eine Qualität, auf die sich die Apologeten westlicher Vormacht desto mehr zu berufen scheinen, als die Welt um sie herum in Scherben fällt: "Das ist doch hier das Land, das den zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Jetzt haben sie sich von ein paar Leuten ins Bockshorn jagen lassen. Winston Churchill war da aber noch von härterem Kaliber." [3] Was als notorische Erinnerung an die siegreichen Alliierten antifaschistisch anmutet, erweist sich im Rückgriff auf den sozialchauvinistisch und biologistisch argumentierenden Nationalismus eines Sarrazin als Fleisch vom Fleische jener Brut, mit der sich diese Herren niemals handgemein machten, ohne daß sie Probleme damit hätten, ihre Stigmatisierungsmethodik auf das Feindbild angeblich unproduktiver Menschen im allgemeinen und Muslime im besonderen zu münzen.

So wird die neokonservative Freiheitsrethorik keineswegs in die Forderung übersetzt, allen Menschen Zutritt zur EU zu verschaffen, ganz im Gegenteil. Was derzeit im Mittelmeer geschieht, wird befeuert von einer rassistischen Apologie, als deren Bannerträger die gleichen Wortführer fungieren, die behaupten, die westlichen Staaten täten zu wenig, um ihre Freiheit zu verteidigen. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die Revolutionen in Nordafrika mit 1989 vergleicht, als das Einreißen der innerdeutschen Mauer den Ausbau der Festung Europa als Hort des finalen liberalen Gesellschaftsentwurfs und als Zentrum globaler Wertschöpfung beflügelte, dann bleibt nur der Schluß, daß die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge den Anspruch auf Freiheit dadurch verwirkt haben, daß sie nicht zu den Leistungsträgern des kapitalistischen Weltsystems gehören.

Keineswegs will man die Grenzen dicht machen, tönen die Herolde des europäischen Akkumulationsregimes, man will nur sehr genau darüber befinden, wer Zutritt haben soll und wer nicht, wer "uns" nützt und wer "uns" schadet. Hier den Begriff des Menschenmaterials zu verwenden, der in die große Maschine einzuspeisen ist, wäre faktisch so zutreffend, wie es aus Gründen allzu großer Kenntlichkeit der räuberischen Motive dieses Selektionssystems unerwünscht ist. Was unter dem Titel "Integration" verhandelt wird, reklamiert Definitionshoheit über die Parameter der Verwertbarkeit des sogenannten Humankapitals. Was an Europas Außengrenzen in offener Menschenverachtung praktiziert wird, wird in den metropolitanen Salons unter der Prämisse eines Wertekatechismus verhandelt, über dessen Normen nur ganz bestimmte, meist männliche und weiße Vordenker zu befinden haben.

Wenn auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich ausgesprochen wird, daß man zwar sehr für die Freiheit der Tunesier und Ägypter ist, diese jedoch im Rahmen westlicher Hegemonialinteressen zu verbleiben hat, dann erweist sich Camerons Lamento über die "passive Toleranz", die die britische Gesellschaft gegenüber ihren muslimischen Bürgern bis zur Selbstaufgabe geübt habe, als propagandistische Opferdisposition, die zu überwinden nach rücksichtsloser Ermächtigung verlangt. Wenn Staaten, deren Streitkräfte im Nahen und Mittleren Osten Krieg führen, den eigenen Niedergang aufgrund der Migration aus dieser Region an die Wand malen, dann handelt es sich dabei um nichts anderes als die nachträgliche Rechtfertigung einer die eigenen Interessen durchsetzende Aggression.

Der von Broder und Konsorten mit ideologischem Demokratismus legitimierten Islamfeindlichkeit bleibt denn auch kaum eine andere Artikulation als die der verletzenden Polemik. Die materiellen Grundlagen des Verhältnisses zwischen imperialem Zentrum und neokolonialistisch verfügter und bewirtschafteter Peripherie, das in Tunesien und Ägypten auf prototypische Weise manifest wird, sind von ökonomischer, politischer und militärischer Gewalt bestimmt. Die Verkürzung der Debatte auf das vermeintliche Integrationsproblem ist bereits Ausdruck vollzogener Unterwerfung. Wenn die sogenannte Herkunftsbevölkerung von den MigrantInnen Anpassung an ihre Gesellschaftsnorm verlangt, um nur noch darüber zu debattieren, wie dies im einzelnen zu erfolgen hat, dann handelt es sich um einen Herrschaftsdiskurs, der von den Bedingungen globaler Ausbeutung und Unterdrückung nichts wissen will, weil die eigenen Überlebensprivilegien sich aus ihnen nähren.

Es ist eher kontraproduktiv, sich darüber zu schämen, daß die deutsche Woche an der LSE mit einer Runde eröffnet wird, die das Bild vom häßlichen Deutschen auf exemplarische Weise illustriert. Wenn sich die Vorreiter einer von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung befürworteten kulturalistischen Selbstbehauptung im Zentrum des historischen britischen Kolonialismus ein Stelldichein geben, um einem angeblich wohlmeinenden europäischen Imperialismus das Wort zu reden, dann sind nationale Darstellungsprobleme völlig unzureichend, um dem damit gesetzten Paradigmenwechsel entgegenzutreten. Die Synchronizität des Aufkommens von Funktionseliten in Politik und Medien initiierter massenwirksamer Sozialrassismen in der EU zeigt, daß sich die neokonservative Rechte längst supranational formiert hat, weil die Hebel ihrer Ermächtigung dort am wirksamsten greifen.

Das Spardiktat der öffentlichen Budgets, die durch Lohnsenkungen und Sozialabbau verschärfte Standortkonkurrenz und die diese Entwicklung flankierende Repression nach innen und außen bedürfen eines Menschenbilds, das letzte Reste an solidarischer Praxis, humanistischer Bürgerlichkeit und linksradikalem Widerstand entsorgt. Die nicht selten als temporäres Phänomen des massenmedialen Wellenschlags abgeschriebene Sarrazindebatte ist alles andere als vorbei. Sie droht sich zu einer Herrschaftsdoktrin zu entwickeln, der sich vor dem Hintergrund allgemein verschärfter Überlebensbedingungen auch jene Menschen anschließen könnten, die die Feindseligkeit der Broder und Sarrazin nicht adaptieren möchten, weil sie das große Hauen und Stechen erahnen, das zwingend auf sie folgt. Um so gebotener ist eine Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung, die sich nicht damit aufhält, über falsch und richtig zu räsonieren, sondern die den Kern der kulturalistischen und szientistischen Camouflage, den Krieg gegen die Armen und Schwachen, ins Visier der Kritik nimmt.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,745569,00.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1583.html

[3] http://www.stern.de/politik/deutschland/deutsche-integrationsdebatte-in-london-sarrazin-broder-und-die-frage-warum-wir-in-deutschland-eigentlich-keine-witwen-verbrennen-1654186.html

15. Februar 2011