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KULTUR/0897: Liebe in Zeiten des Neoliberalismus ... (SB)



"Es war schlichtweg Liebe", erklärt der über seine Beziehung zu einem 16jährigen Mädchen gestolperte CDU-Politiker Christian von Boetticher unisono mit der ehemaligen Freundin, die via Bild-Zeitung nämliches behauptet. Schluß gemacht habe er aufgrund des objektiven "Bedrohungs- und Erpressungspotentials" gegenüber seiner Partei, sei eine solche Liebesbeziehung "zwar rechtlich legal, trifft aber bei vielen Menschen auf verständliche moralische Vorbehalte." [1] Verständlich ist vieles, so auch die Aggressivität moralischer Bigotterie. Den andern in seinen Motiven zu verstehen und sich gleichzeitig vorzubehalten, ihnen zuwiderzuhandeln, kann als Spagat sozialer Ambivalenz nur bedingt durchgehalten werden. In diesem Fall haben sich in der honorigen Fassade so tiefe Bruchlinien gebildet, daß nicht mehr viel zu retten war. Was bleibt, ist ein Schaden an der gutbürgerlichen Charaktermaske, der deren völlige Preisgabe zwecks Neubeginns unter gänzlich anderen, vom Ballast feindseliger Unterstellungen befreiten Bedingungen nahelegt.

Daß Liebe Berge versetzt oder was der weltbewegenden Qualitäten dieser Kategorie sozialer Vergemeinschaftung noch alles zugeschrieben wird, war diesem Paar offensichtlich nicht gegeben. Während landesweit über die Moralität einer solchen Beziehung debattiert wird, bleibt die Frage offen, warum Boetticher sich nicht für seine Freundin und gegen die politische Karriere entschieden hat. Er hätte sogar die Möglichkeit gehabt, sich zu ihr zu stellen und die Verfechter einer für seine Lebenspraxis offensichtlich irrelevanten Moral dazu aufzufordern, das angeblich Verwerfliche an einer in gegenseitigem Einvernehmen aufgenommenen Liebesbeziehung beim Namen zu nennen.

Nein, Christian von Boetticher will ein treuer Parteisoldat sein, dem auch die verlogenste Moral eine zu wichtige Waffe der Parteiräson ist, als daß er sich zum Rebellen im Namen der Liebe machte. Bei Hollywood-Romanzen hinwegschmelzen, in denen Menschen sich gegen Gewinn und Erfolg entscheiden, weil die Liebe selbst als amour fou über allem steht, ist eine Sache. Eine sexuelle Beziehung in Zeiten des Neoliberalismus, also der Verwertung von allem und jedem, als etwas anderes zu verstehen denn ein Wechselverhältnis zum jeweiligen Vorteil ist um so abwegiger, als der Konsum romantischer Gefühle den Härtetest alltäglicher Erniedrigung erst absolvierbar machen soll. Bild.de jedenfalls weiß, was das Publikum bewegt, wenn die Schlagzeile "Sex beim ersten Treffen!" [2] Empörung darüber insinuiert, daß die vom Boulevard zum Trostpreis für alle Entbehrungen fremdbestimmter Unterwerfung hochgejubelte Sexualität in diesem Fall nicht ganz auf der Bahn einer Moral liegt, die das notorische Präsentieren sekundärer Geschlechtsmerkmale und schlüpfriger Geschichten nicht etwa anstößig macht, sondern überhaupt erst zum konsumistischen Genuß werden läßt. Den Blattschuß schließlich feuert Vox populi Franz Josef Wagner ab, indem er den CDU-Politiker schonungslos jener fleischlichen Gier anprangert, ohne die der von seiner Zeitung gepflegte Journalismus seines wichtigsten Standbeins verlustig ginge: "Sie, lieber von Boetticher, Sie sind weder christlich noch sozial. Sie sind ein Lustmolch." [3]

Ganz und gar christlich und sozial sei alles, was das Ressentiment der sozialen Verachtung, der rassistischen Ausgrenzung und nationalen Suprematie befördert. Aus welchen Motiven auch immer sich ein 40jähriger Mann mit einer 16jährigen Jugendlichen vice versa einläßt, in den Augen einer den Warencharakter der Sexualität täglich ausschlachtenden Journaille kann es sich nur um eine verwerfliche, um nicht zu sagen von pädophiler Wollust getriebene "Teenie-Affäre" handeln. Das Mahl so selbstgerechter wie erregter Empörung ist angerichtet. Im fortgeschrittenen Zerfallsstadium bürgerlicher Moral gibt man sich liberal, um die Verfügbarkeit des Menschen, seine Einspeisung in die Prozesse der Verwertung und seine Atomisierung zum Zwecke der Beherrschbarkeit, zu gewährleisten. Chaos und Anarchie sind die ungeliebten Begleiter jener Innovationslogik ständig umzuwälzender Verhältnisse, die für die Steigerung der Produktivität unabdinglich sind. Der Versuch allerdings, den systematischen Bruch aller Verläßlichkeit und Berechenbarkeit nicht passiv zu erleiden, sondern in ein Instrument eigener Emanzipation zu verkehren, könnte nicht rigider - etwa durch die Einforderung einer in sich widersprüchlichen Moral - bekämpft werden.

Für die Zurichtung der Menschen, sich widerspruchslos auf den ihnen zugedachten Platz in der neofeudalen Arbeitsgesellschaft zu begeben, reicht der globale Elendsvergleich nicht aus. Der Glaube, es als Bürger eines privilegierten Gemeinwesens nicht so schlecht getroffen zu haben, wird jedoch durch den Überschuß an Verlangen nach einem erfüllten Leben in Frage gestellt. Der in der Überlebenskonkurrenz sozial gebrochene, im Reigen identitärer Tauschwerte gefangene Homo oeconomicus soll seine Träume im Warenkonsum ausleben und nicht in der voraussetzungslosen und unberechenbaren Gemeinschaft mit anderen Menschen entdecken, daß der Mangel seine Verfügbarkeit bedingt und daher niemals zu stillen ist.

Selbst ein CDU-Politiker braucht eine Karotte vor der Nase, um die
Peitsche auf dem Rücken nicht gegen die Sklaventreiber zu wenden.
Wenn er diese in den Armen einer unmoralischen Affäre findet und es
zuläßt, die Flüchtigkeit dieser Begegnung in einen Karrierebruch
münden zu lassen, wenn er die lackierte Oberfläche des
Erfolgs ohne Not in ein Schlachtfeld des Scheiterns verwandelt,
dann steckt vielleicht doch ein verspäteter Rebell, der
insgeheim subversiven Leidenschaften frönt, in ihm.
Wer weiß, vielleicht hat es ja Franz Josef Wagner mit der Breitseite
bürgerlicher Bigotterie geschafft, Christian von Boetticher
von den Dämonen einer mit Strafe und Vergeltung
gepanzerten Moral zu befreien. Hat die Freiheit,
die Bundeskanzlerin Angela Merkel ganz gewiß nicht meint,
wenn sie dieses Wort in den Mund nimmt,
erst einmal ihren Schrecken verloren, dann lebt es sich
ohne Angst um die eigene Reputation um vieles besser als
im Käfig eines Erfolgsstrebens, dessen Insassen von bloßer Hoffnung
zehren müssen.

Fußnoten:
[1] http://www.bild.de/politik/inland/dr-christian-von-boetticher/ruecktritts-erklaerung-im-wortlaut-19403230.bild.html

[2] http://www.bild.de/politik/inland/dr-christian-von-boetticher/sex-beim-ersten-treffen-19410720.bild.html

[3] http://www.bild.de/news/standards/dr-christian-von-boetticher/post-von-wagner-19413184.bild.html

16. August 2011


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