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KULTUR/0913: Heroen bürgerlicher Ideologieproduktion auf Normalmaß geschrumpft (SB)



Das Abwirtschaften der höchsten moralischen Instanz der Republik kann nicht weiter erstaunen, steht Bundespräsident Christian Wulff doch jener Leistungselite nahe, die die persönliche Begünstigung durch Amt, Beruf und Geburt eins zu eins in vermeintlich verdienstvoll erlangte Privilegien ummünzt. Findet ihr Erwerb am Finanzmarkt, im Spitzenmanagement oder Unternehmensvorstand unter weit weniger gesundheitsschädlichen Bedingungen statt als denjenigen, denen der Niedriglohnjobber für einen Lohn ausgesetzt ist, der kaum zum Erhalt seiner Arbeitskraft ausreicht, so scheint der Platz am reich gedeckten, von namenlosen dienstbaren Geistern versorgten Tisch der gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsproduktion mehr als verdient zu sein. Diesen Antagonismus zwischen neofeudaler Elite und sozial absteigender Bevölkerung mit der Aura hochmoralischer Anständigkeit zu umfloren ist Sinn und Zweck der repräsentativen Funktion eines Bundespräsidenten. Öffentliche Mahlzeiten mit Obdachlosen erfüllen ihn ebenso wie freundliche Worte an ethnische Minderheiten, selbst wenn der erste Notar des Landes Gesetze abzeichnet, deren sozialfeindlicher Charakter die Lage erwerbsloser und versorgungsbedürftiger Menschen weiter verschärft.

Wenn der staatsklerikale Nimbus des präsidialen Vorbilds allerdings durch profane persönliche Vorteilsnahme beschädigt wird, dann wackelt nicht nur der Stuhl des Amtsinhabers, sondern das gesamte Institut dieses Verfassungsorgans. Seine prominente Stellung im Legitimationsgetriebe der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht nur wegen des peinlichen Abgangs des Vorgängers Horst Köhler schon durch geringe Irritationen zu erschüttern, sind die virulenten sozialen Widersprüche doch durch die üblichen symbolpolitischen Pflaster, die zu verabreichen erste Aufgabe des Bundespräsidenten ist, längst nicht mehr zu kitten. Je mehr sich das saturierte Bürgertum, repräsentiert durch die Herolde der Kapital- und Staatsmedien, an die Fiktion den Sozialkampf entschärfender moralischer Werte klammert, desto offenkundiger wird die Erosion des Fundaments der durch den Primat der Kapitalverwertung um fast jeden Preis bestimmten Zivilgesellschaft.

Um so bereitwilliger unterwerfen sich die medialen Funktionseliten jener affirmativen Deutungshoheit, die seit dem Anschluß der DDR an die BRD auf eine, die kapitalistische Vergesellschaftung rechtfertigende Letztbegründung reduziert zu sein scheint. Kommt das Ideal der Demokratie unter die Räder eines exekutiven Krisenmanagements, das den politischen Willen des nominellen Souveräns nach mehr sozialer Gerechtigkeit auf dem Altar unbedingter Kapitalakkumulation opfert, steht der Rechtstaat zur Disposition des Kriege nach außen wie innen führenden Primats imperialistischer Gewalt, so muß das Ideologem der Freiheit retten, was nicht mehr rettbar ist, weil es längst vom inhärenten Widerspruch liberaler Sachzwanglogik überholt wurde.

So laufen die Elogen auf den verstorbenen tschechischen Dichter und Politiker Vaclav Havel in einem medialen Kosmos leer, der jede Verbindung zur sozialen Realität in den Gesellschaften der mittelosteuropäischen Staaten verloren zu haben scheint. Die durch den Beitritt zur EU keineswegs aufgehobene, sondern durch den neoliberalen Strukturwandel noch verschärfte Verelendung großer Teile ihrer Bevölkerungen hat rechtspopulistischen Bewegungen und staatsautoritären Maßnahmen Auftrieb gegeben, die ihre Legitimation nicht zuletzt aus dem rigorosen Antikommunismus ihrer Eliten schöpfen. Rassistische Ausfälle insbesondere gegen Roma, aus Elend geborene Erwerbsformen wie Prostitution und Organhandel und frühkapitalistische Formen der Ausbeutung durch Arbeit gehen Hand in Hand mit der sozialfeindlichen Begünstigung von Kapitaleignern durch Flat-Tax-Modelle und Privatisierungspolitik, mit der Hofierung internationaler Investoren durch arbeiter- und umweltfeindliche Standortkonkurrenz und massiver Repression insbesondere durch neue Ausprägungen der Zwangsarbeit.

Bei allem Mut, den Vaclav Havel als Dissident bewiesen haben mag, zeugt sein politisches Wirken nach dem Ende der Sowjetunion von einem aggressiven Neokonservativismus, der ihn als osteuropäisches Pendant zur ehemaligen Lichtgestalt Tony Blair erscheinen läßt. So hat Havel nicht nur den Beitritt seines Landes zur NATO entschieden vorangetrieben, sondern wuchs in dem bald darauf erfolgten Überfall auf Jugoslawien zu einem Falken von Blairschem Format heran. Als er als erster Präsident eines NATO-Staates den Kosovo besuchte, verstieß er gezielt gegen die diplomatischen Gepflogenheiten, indem er die Hauptstadt Belgrad links liegen ließ. Der tschechische UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Jiri Dienstbier, ein Dissident wie Havel, wurde wegen seines Eintretens für die verfolgten Minderheiten des Kosovo öffentlich von seinem früheren Kampfgefährten für seine kritische Haltung zur westlichen Politik gegen Jugoslawien gerügt.

Auf dem NATO-Gipfel in Prag 2002 grüßte Havel die angereisten Regierungsdelegationen mit einem leuchtenden roten Herz, das er auf dem Hradschin aufstellen ließ, nur um sein Land schon bald darauf in die Coalition of the Willing zu manövrieren, deren Regierungen dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Überfall auf den Irak die notwendige Legitimation verliehen. Seine letzte Amtshandlung als scheidender Präsident der Tschechischen Republik bestand in der Unterzeichnung einer Erklärung von fünf EU-Staaten sowie Polens, Ungarns und Tschechiens, mit der die zurückhaltende Position der EU-Außenminister zum geplanten Krieg ohne vorherige Konsultation mit der griechischen Ratspräsidentschaft sowie unter Umgehung Frankreichs und Deutschlands durch einen Akt europäischer Spaltung unterlaufen wurde. Daß ausgerechnet der Dichterpräsident dafür Sorge trug, daß sein Land, das vor dem Zweiten Weltkrieg das erste Opfer des NS-Regimes wurde und bis 1991, als Tschechien sich mit einer chemischen Spezialeinheit am zweiten Golfkrieg beteiligte, militärischen Auslandsoperationen fernblieb, 2003 den Angriffskrieg gegen den Irak unterstützte, qualifiziert Havel vollends für einen Platz im Pantheon der Wendeheroen. Seine Mitgliedschaft in neokonservativen Strategieschmieden wie dem Committee on the Present Danger, der Democracy & Security International Conference und der Friends of Israel Initiative stand für eine Parteinahme auf der Seite kriegführender Staaten, die das Ziel der Freiheit auf dem Rücken ökonomischer Verelendung ganzer Bevölkerungen verfolgen.

Diese Realität wird in den Nachrufen auf Vaclav Havel so gründlich ausgespart, wie von der Subordination der mittelosteuropäischen EU-Staaten unter das deutsch-französische EU-Direktorat keine Rede ist. Die tiefen sozialen Verwerfungen innerhalb der EU sind systemischer Art, wäre das kerneuropäische Akkumulationsregime doch ohne das Produktivitätsgefälle zur östlichen und südlichen EU-Peripherie schon vor Jahren zusammengebrochen. Um so dringender bedarf die bürgerliche Ideologieproduktion kultureller Ikonen wie Vaclav Havel, verleihen diese doch dem materialistischen Gewaltverhältnis dem nach wie vor auf Staatenkonkurrenz basierenden Verwertungsmodell der EU eine Glaubwürdigkeit, die aus der Sicht der davon betroffenen Bevölkerungen längst zerstört ist.

Die Glorifizierung der angeblichen Befreiung des Jahres 1990 kann den drastischen Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion, der mit der krisenhaften Entwicklung der Eurozone vollends manifest geworden ist, nicht mehr kompensieren und dient daher in erster Linie der Beschwichtigung derjenigen, die ihr frönen. Wie gegen gewaltfreien Widerstand, als dessen Symbol Havel gefeiert wird, heute, wenn Aktivistinnen und Aktivisten auf dem Tahrir-Platz, auf dem Syntagma-Platz oder in der Wall Street den zentralen gesellschaftlichen Konflikt adressieren, vorgegangen wird, belegt, daß die Machtfrage auf der Höhe der Zeit von Antikapitalisten gestellt wird. Zu diesen hat der Verstorbene niemals gezählt, ganz im Gegenteil. Die auf sozialdarwinistisches Normalmaß geschrumpfte Figur eines Wulff, der sein moralisches Guthaben auf so durchsichtige Weise verteidigt, daß selbst wohlmeinende Unterstützer an seiner Integrität zweifeln müssen, bietet die adäquate Antwort auf die rückwärts gewandte Ideologieproduktion bürgerlicher Kommentatoren und Politiker: Ihre Freiheitslyrik endet im Hauen und Stechen um die verbliebenen Lebensressourcen, in der allgemeinen Schnäppchenjagd an der Resterampe der auslaufenden Reichtumsproduktion, wo sich auch das gehobene Publikum nicht mehr zu fein ist, die materiellen Grundbedingungen gesellschaftlicher Existenz auf archaische Weise zu sichern.

19. Dezember 2011