Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KULTUR/0923: Deutsche Rückendeckung für Erdogans Repression gegen Minderheiten (SB)



Wenn man nicht gerade der alevitischen, armenischen oder kurdischen Minderheit angehört, als Frau Gleichberechtigung, als Journalist Pressefreiheit oder als Menschenrechtler Rechtsstaatlichkeit fordert, sollte die Türkei ein Land sein, in dem es sich leben läßt - von den üblichen Ausbeutungs- und Armutsfolgen einer kapitalistischen Klassengesellschaft einmal ganz abgesehen. Um alle Mißverständnisse gleich im Keim zu ersticken, sei an dieser Stelle hinzugefügt, daß sich die Kritik an der türkischen Regierungspolitik und die hiesigen Vorbehalte gegen Türken im allgemeinen aus höchst unterschiedlichen Quellen und Gründen speisen, die es im aktuellen Fall natürlich auseinanderzuhalten gilt. So ist beispielsweise die Bundesrepublik für Kurden, die sich entschieden für die Selbstbestimmung ihres Volkes einsetzen, ein kaum minder heißes Pflaster wie die Türkei selbst, wie Verbote, Abschiebungen, Prozesse und verhängte Haftstrafen dokumentieren.

Obgleich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan seinen geplanten Besuch in Deutschland, wo er bei der Verleihung des Medienpreises Steiger-Awards in Bochum ausgezeichnet werden sollte, abgesagt hat, protestierten mehrere tausend Menschen in der Bochumer Innenstadt. Sie werfen ihm, der deutschen Rassismus anprangert und türkischen unterstützt, Unterdrückung von religiösen und ethnischen Minderheiten, mangelnde Pressefreiheit und fehlende Gleichberechtigung vor. Aufgerufen zu dem Protest hatte die Alevitische Gemeinde Deutschland, deren Kundgebung sich auch zahlreiche Kurden und Armenier anschlossen, die in dem Preis für Erdogan ebenfalls einen "Schlag ins Gesicht aller Minderheiten in der Türkei" sehen. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) kritisierte die geplante Auszeichnung des türkischen Ministerpräsidenten mit der Erklärung, eine Ehrung Erdogans komme einer Mißachtung des Grundrechts der Meinungsfreiheit gleich. [1]

Armenische Verbände können es nicht ertragen, einen Politiker gewürdigt zu sehen, der den Genozid an ihrem Volk leugnet. Kurden werden seit Jahrzehnten in der Türkei unterdrückt und stellen das Gros der politischen Gefangenen. Etwa 20 Millionen Aleviten in der Türkei kämpfen um ihre Existenz und Anerkennung, da sie von der sunnitischen Mehrheit, zu der auch Erdogan gehört, als Ungläubige diffamiert werden. Am 13. März 2012 entschied ein Gericht in Ankara, daß einige der Brandstifter, die für das 1993 in Sivas verübte Massaker, bei dem 35 Menschen zumeist alevitischer Herkunft im Beisein von Polizei, Feuerwehr und Lokalpolitikern ermordet wurden, wegen Verjährung der Tat nicht verurteilt werden können. Erdogan reagierte auf das Gerichtsurteil mit den Worten: "Möge dies segensreich für unser Volk und unser Land sein." [2]

Nach dem Erfolg der linken prokurdischen "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTB) im Frühjahr 2009 setzte in der Türkei eine bis heute anhaltende Welle von Verhaftungen ein. Mehr als 8.000 Mandatsträger, Funktionäre und Mitglieder der inzwischen verbotenen DTB und ihrer Nachfolgerin, der "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP) und Aktive aus Menschenrechtsvereinen, Gewerkschaften sowie der Frauen- und Ökologiebewegung wurden festgenommen. Fast das gesamte Verteidigerteam des seit dreizehn Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali unter Isolationsbedingungen festgehaltenen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan befindet sich in Haft. Rund 70 Journalisten und Schriftsteller und damit mehr als in jedem anderen Land werden unter fingierten Vorwürfen festgehalten. [3]

Nicht weniger als 12.000 Menschen wurden seit dem 11. September 2001 unter Terrorverdacht verurteilt, womit die Türkei weltweit an der Spitze liegt. Grundlage der Verhaftungen ist das Antiterrorgesetz, dem zufolge das Eintreten für eine Friedenslösung, eine kommunalpolitische Betätigung, die Forderung nach muttersprachlichem Schulunterricht für Kurden oder andere Formen staatlicherseits unerwünschten Engagements als Terrorunterstützung ausgelegt werden können. Die Entwicklung in jüngerer Zeit gibt Anlaß zur Befürchtung, daß die AKP-Regierung nach ihrem Sieg im Machtkampf mit dem kemalistischen Staatsapparat entschlossen ist, die kurdische Bewegung sowohl militärisch als auch politisch zu vernichten.

Dies vollzieht sich von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet und mit dem Segen der Bundesregierung. So versicherte Bundeskanzlerin Merkel dem türkischen Premierminister Erdogan bei dessen Deutschlandbesuch im Oktober 2011, daß Deutschland im Kampf gegen den Terror fest an der Seite der Türkei stehe. Im vergangenen Jahr wurden erstmals politisch aktive Kurdinnen und Kurden in Deutschland nach §129b (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung) angeklagt, womit die Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung noch einmal eine deutliche Verschärfung erfuhr.

Mit dem aus einer Privatinitiative entstandenen undotierten Steiger-Award sollen laut den Initiatoren Persönlichkeiten gewürdigt werden, "die sich durch Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz auszeichnen". Der Preis sollte Erdogan nach Angaben der Veranstalter "für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft stellvertretend für das türkische Volk" übergeben werden. Der Premierminister bemühe sich "seit Jahren um einen demokratischen Wandel in seinem Land".

Bleibt noch nachzutragen, daß die Absage Erdogans mit dem Absturz eines türkischen Militärhubschraubers in Afghanistan begründet wurde, bei dem vierzehn Menschen starben, darunter zwei afghanische Mädchen. Die Türkei stellt rund 1800 Soldaten der westlichen Besatzungstruppen am Hindukusch - ein weiteres Kapitel türkischer Gegenwartsgeschichte, das hierzulande aus naheliegenden Gründen kaum Erwähnung findet.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/deutschland/article13927164/Erdogan-sagt-Besuch-in-Deutschland-ueberraschend-ab.html

[2] http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/23/0,3672,8492983,00.html

[3] Sonderausgabe der Roten Hilfe: Tag der politischen Gefangenen (18.03.2012)

17. März 2012