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KULTUR/0930: Das Geschäft des Boulevards betreiben, indem man es leugnet ... (SB)




Wenn der Standesdünkel dazu Anlaß gibt, einen renommierten Journalistenpreis abzulehnen, weil die Geehrten nicht mit der Bild-Zeitung in einem Atemzug genannt werden möchten, während das Blatt, für das sie schreiben, gegen die gelegentliche Zusammenarbeit mit Deutschlands größter Boulevardzeitung nichts einzuwenden hat, dann enthüllt das publizistische Sittengemälde eine Moral, deren Verlogenheit nicht nur Hausmarke des Springer-Blattes ist. Hans Leyendecker, Klaus Ott und Nicolas Richter von der Süddeutschen Zeitung (SZ) wollten nicht zu gleicher Zeit mit zwei Autoren der Bild-Zeitung geehrt werden, was auf offener Bühne kundgetan wurde. Sie mißgönnten Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch nicht etwa den Erfolg und erhoben auch keine fachlichen Einwände gegen die Entscheidung der Jury des Henri Nannen-Preises. Nein, ihnen widerstrebte lediglich, zusammen mit der Bild-Zeitung in der Kategorie "Beste investigative Leistung" ausgezeichnet zu werden.

Zweifellos sind gut ausrecherchierte Artikel für ein Blatt, das sein Geschäft, wie es die Band Die Ärzte in ihrem Titel "Lasse redn" auf den Punkt brachte, mit "Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht" macht, eher die Ausnahme denn die Regel. Daß der schlechte Ruf, der den Namen dieser Tageszeitung zum Synonym für das Heischen nach Aufmerksamkeit um jeden Preis, und sei es unverschnittene Menschenverachtung, gemacht hat, abfärben könnte, ist allerdings nur zu vermuten, wenn man selbst am Run auf die dumpfsten Emotionen und grellsten Eklats beteiligt ist. Auch wenn man sich etwas vornehmer gibt, steht im Mittelpunkt kulturindustrieller Verwertung, was keinen Anlaß dazu gibt, sich mit den sozialen Widersprüchen kapitalistischer Gesellschaften streitbar auseinanderzusetzen. Der Privatkredit des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, den der nun mit höchsten journalistischen Meriten versehene Beitrag der Bild-Zeitung zum Gegenstand hat, macht da keine Ausnahme, weil er bestenfalls ein Symptom des zentralen gesellschaftlichen Konflikts ist.

Um so begeisterter wurde er von der professionellen Presse aufs Korn genommen. Nachdem die Enthüllung der Bild-Zeitung am 13. Dezember 2011 die erste Welle der Empörung über den CDU-Politiker lostrat, legte die Süddeutsche Zeitung am 2. Januar 2012 mit der Information nach, daß Wulff Bild-Chefredakteur Kai Diekmann am 12. Dezember 2011 mit dem "endgültigen Bruch" für den Fall gedroht habe, daß die nun preisgekürte Story erscheinen würde. Die Wulff-Affäre, die über die Weihnachtspause einzuschlafen drohte, wurde durch Bild-Interna über die Mailboxnachricht wiederbelebt, die FAZ und SZ veröffentlichten. Bild erweckte später mit der Erklärung, man habe die Frage, wie mit der Drohung Wulffs umzugehen sei, in der Redaktionskonferenz breit diskutiert, den Eindruck, daß die Information nicht absichtlich in die Hände der beiden überregionalen Tageszeitungen gelangt wäre.

Wie dem auch immer war, es wurde zumindest in der Verwertung des Eklats über Bande gespielt, und alle hatten etwas davon. Bild konnte sich als Opfer eines staatsgewaltigen Zensurversuchs inszenieren, und auch die Süddeutsche sekundierte bei der Verneblung des antidemokratischen Charakters eines Medienkomplexes, der in diesem Land Politiker, Parteien und soziale Bewegungen fast nach Belieben hoch- und niederschreiben kann. Das sich in der Wulff-Affäre aufschaukelnde Zusammenspiel der führenden Zeitungen und Sender der Republik machte vollends klar, daß die massenmediale Konsensproduktion integrales Element einer Klassenherrschaft ist, die mit dem Exempel, das an Wulff statuiert wurde, symbolpolitisch in Frage gestellt wurde, um sie realpolitisch zu zementieren. Der mehrere Monate währende Niedergang eines Bundespräsidenten, der sich in beispielloser Ignoranz gegenüber den das massenmediale Geschäft beherrschenden Gewaltverhältnissen einbildete, für die Vorteile, die er aus der zweckdienlichen Kooperation mit der Springerpresse zog, nicht auch bezahlen zu müssen, war davon bestimmt, daß sich die größten Medien des Landes auf eine Weise gegenseitig aufmunitionierten, als habe man es mit einem monopolistischen Gesinnungskartell zu tun.

Was Bild billig war, war den anderen recht, und so wurden in der Wulff-Affäre kleine Unregelmäßigkeiten und ordnungswidrige Petitessen zu Staatsaffären hochgeschrieben, als lebe man nicht in einer von offenem Sozialdarwinismus bestimmten Marktwirtschaft, sondern in einer klerikalen Besserungsanstalt für gefallene Mädchen, an denen sich zu vergehen die Priester ebensosehr Gefallen finden, wie sie sich über ihre Bigotterie ausschweigen. Wenn Leyendecker, den die Bild-Zeitung am 8. Januar 2012 mit einem Interview über die Mailboxaffäre präsentierte, das er mit WDR 2 geführt hatte, die erstmalige Verleihung des Henri Nannen-Preises an das Boulevardblatt als "Kulturbruch" bezeichnet, dann bleibt zu wünschen, daß es nicht die einzige Erschütterung sein wird, die die Krieg und Klassenherrschaft begünstigende Konzernpresse heimsucht. Solange sie von den Anteilen, die sie an diesem Geschäft hält, unter Verweis auf die Bild-Zeitung ablenkt, bedarf sie des Boulevards. Nur so kann sie ein Distinktionsstreben bedienen, das sich die Finger mit dem Blut, das in den Schlachten globaler Konkurrenzwirtschaft vergossen wird, nicht schmutzig macht.

13.‍ ‍Mai 2012