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KULTUR/0970: Den fossilen Kapitalismus predigen - Bob Dylans Nationalmythos (SB)




Rund 44 Prozent aller US-Haushalte sind laut einer aktuellen Untersuchung so arm, daß eine größere finanzielle Anforderung wie eine Arztrechnung, eine Reparatur, die Finanzierung einer Ausbildung für die Kinder oder eine für den Alltag unerläßliche Anschaffung ihre Möglichkeiten übersteigt. Da sie aufgrund ihres geringen Familieneinkommens nicht kreditwürdig und Alternativen, sich Geld zu leihen, mit hohen Zinsen belastet sind, ist eine solche Situation häufig der Anfang vom Weg in Obdachlosigkeit und Hunger. Insbesondere der Schicksalsschlag einer schwerwiegenden Erkrankung hat zur Folge, daß Millionen Menschen in den USA meist unwiderruflich auf dem harten Boden der Gesellschaft aufschlagen. Der Studie "Treading Water in the Deep End: CFED s 2014 Assets & Opportunity Scorecard" ist zudem zu entnehmen, daß 89 Prozent der Haushaltsvorstände Lohnarbeit verrichten. Zu den Working Poor zu gehören ist mithin kein Randphänomen, sondern repräsentiert die sozialökonomische Realität fast der Hälfte der Bevölkerung.

Um den immer weiter auseinanderklaffenden Widerspruch zwischen überbordendem Reichtum einiger weniger und ungebremster Verarmung der Mehrheit der Menschen nicht gewaltsam eskalieren zu lassen, wird auch in den USA zum bewährten Rezept nationalistischer Propaganda und rassistischer Feindbildproduktion gegriffen. Auch Bob Dylan, für manche bis heute ein Symbol künstlerischen Protestes, verdingt sich für die Verteidigung des Besitzstandes seiner Klasse. Über 110 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer haben den Werbespot des Autokonzerns Chrysler, in dem der Musiker das Fahrzeug zum Zentrum amerikanischer Identität erhebt, bei Ausstrahlung des Super Bowl, dem Höhepunkt der Football-Saison, am 2. Februar gesehen, mehr als 11 Millionen Mal wurde das Loblied auf den fossilen Kapitalismus auf You Tube [1] angeklickt.

Dylan hatte bei diesem Spektakel aus Produktwerbung und Gladiatorensport im wahrsten Sinne des Wortes ein Heimspiel. "Gibt es irgend etwas, das amerikanischer ist als Amerika?", lautet die rhetorische Frage zu Beginn eines Reigens prototypischer Bilder US-amerikanischer Lebensart, in dem kaum ein nationalchauvinistisches Klischee ausgelassen wird. Das macht zwar niemanden satt, aber nährt den Stolz darauf, an diesem Trugbild prosperierender Produktivität auch als armer Mensch teilhaben zu dürfen. Nicht länger als eine Sekunde währt der Rückblick auf den Protestsänger der 1960er Jahre, um sodann auf den vielbesungenen Highway überzublenden, auf dem der Wechsel der Orte synonym gesetzt wird mit der Vielfalt individueller Chancen und dem Lebenssinn permanenten Wandels.

Nicht nur die Freiheit der Mobilität steht und fällt mit dem Auto als Inbegriff industriekapitalistischen Wachstums, die ganze Nation ist gefragt, wie ein Plakat aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verkündet, auf dem für den Einsatz der Frauen an der Heimatfront der Rüstungsproduktion geworben wurde. Was in Detroit entstand, sei eine Inspiration für den Rest der Welt geworden, behauptet Dylan zu den Bilder einer Ära, in der ein nicht geringer Teil des nationalen Produkts an den Fließbändern der Autostadt erwirtschaftet wurde. Daß diese postkapitalistische Ruine inzwischen unter ökonomischer Zwangsverwaltung steht und nur mehr als zentraler Brennpunkt des in den USA geführten Sozialkampfes Schlagzeilen macht, geht im einstigen Ruhm längst erwerbslos gewordener Arbeiterinnen und Arbeiter rückstandslos unter.

Wo die Luftaufnahme eines vielbefahrenen Autobahnkreuzes eigentlich die Dystopie des die Lebenswelt von Mensch und Natur zerstörenden Verkehrsinfarkts zeigt, gerät sie in dem zweiminütigen Werbestreifen zum Gründungsmythos eines Amerika, dessen Größe mit dem Output der Autofabriken steht und fällt. "Du kannst das Herz und die Seele jedes Mannes und jeder Frau am Fließband nicht importieren", spinnt Dylan den Faden des Märchens fort, den er mit der unverwechselbaren Originalität US-amerikanischer Kulturproduktion zu Beginn des Werbespots aufnahm. Wie cool der popkulturelle Imprint James Deans auch immer wirken und wie verheißungsvoll das Glück hinter der nächsten Biegung des Highway der tausend Möglichkeiten winken mag, die Produzentinnen und Produzenten genuin US-amerikanischer Wertschöpfung befinden sich längst im freien Fall der Überproduktion, die die globale Automobilindustrie in einen Verdrängungswettkampf um verbliebene Marktanteile getrieben hat. Die gänzlich unromantische Realität knallharter, auch letzte, noch nicht erschlossene Produktivitätsreserven in den Seelen und Körpern der Arbeiterinnen und Arbeiter verwertende Rationalisierung kennt nur eine Antwort, wenn die Produktivitätsunterschiede nationaler Standorte den Fall der Profitrate nicht mehr aufhalten können - die Umstellung der Produktion auf Kriegswaffen.

Vom Werbespot eines Automobilkonzerns ist nichts anderes zu erwarten, als daß er das eigene Geschäft von jeglichem Schaden entkoppelt, den es an Mensch und Natur anrichtet. Dylan allerdings verklärt die in Modulbauweise Vielfalt suggerierende Massenfertigung und den mit allen Finessen des Warenfetischs entfachten Glauben an die motorgetriebene Befreiung des Menschen vom Naturzwang zum Inbegriff einer Identität, der niemand das Wasser reichen kann, der nicht so unverwechselbar wie Amerika ist: Es gibt nur eine Sache, "die du nicht importieren kannst: Amerikanischer Stolz. Laß die Deutschen dein Bier brauen, die Schweizer deine Uhr herstellen, laß Asien dein Telefon montieren - wir bauen dein Auto".

Der Traum von einer Freiheit, der die Ausbeutung dazu erforderlicher Arbeit und den Raub dazu notwendiger Ressourcen als Ausweis nationaler Größe rühmt, kommt im Abgesang auf einen fossilen Kapitalismus, der der Welt den Rest gibt, solange die Räder nur rollen, zu sich selbst. Wo den Hungernden letzte Lebenschancen mit der durch Agrosprit befeuerten Suggestion genommen werden, bequem im Sessel zu sitzen und doch vorwärtszukommen, wo allein die Fläche der Parkplätze in den USA den Boden eines Bundesstaats wie Oklahoma versiegeln und Kriege um die Verfügbarkeit in fernen Ländern geförderter Treibstoffe geführt werden, kann die Verwüstung sozialer Realität durch keine noch so imaginative Sinngebung geleugnet werden.

Dylan befindet sich mit seinem Lobgesang auf die automobile Lebensart und fordistische Produktionsweise auf der Höhe des globalen Wettkampfes um die verbliebenen Potentiale industrieller Wertschöpfung. So flach der von ihm besungene Mythos daherkommt, so unmißverständlich ist die Botschaft nationalstaatlicher Restauration. Zu vermuten, daß diese Ikone amerikanischer Popkultur in den letzten 50 Jahren eine Wendung um 180 Grad vollzogen hätte, führt allerdings in die Irre einer Verkennung, gegen die schon die Bürgerrechts- und Protestbewegung nicht gefeit war und die Dylan groß gemacht hat. Sein künstlerisch durchaus spannendes Werk war stets ein Spiegel der gerade tonangebenden Verhältnisse, und das macht auch die Kontinuität seiner vermeintlichen Brüche aus.

So ist Dylan im Herbst des Spätkapitalismus für die Kulturindustrie so aktuell wie zu einer Zeit, als die Revolution noch nicht im Fernsehen inszeniert und auf Facebook gepostet wurde. Der einst von ihm besungene Aufbruch in eine bessere Welt war das konsumistische Substrat von Kämpfen, in denen Menschen eingeknastet und umgebracht wurden, die ihre Existenz, wenn überhaupt, nur mehr als konsumistisch und popkulturell zertrümmerte Bruchstücke des kollektiven Vergessens streitbarer Zeiten fristen. Dient sich ein Dylan der programmatischen Geschichtslosigkeit des neoliberalen Kapitalismus als vermeintliche Brücke in dieses Gestern an, dann wird die Authentizität seines Beitrags nicht minder aus fremden Quellen geschöpft als die Produkte einer Lohnarbeit, der jede unbeherrschbare Subjektivität ausgetrieben werden soll. Ihren Zwangscharakter auf der endlosen Straße der Hoffnung vergessen zu machen reicht nicht aus, um den Schmerz des Verlustes an tatsächlicher Autonomie zu betäuben. So könnte Dylan mit der Verklärung herrschender Gewaltverhältnisse ganz ungewollt bewirken, daß die Irrationalität seiner Predigt, sich dem Getriebe menschenverachtender Ausbeutung widerstandslos zu fügen, durch den Schrei nach ihrer Überwindung übertönt wird.


Fußnoten:

[1] http://www.youtube.com/watch?v=KlSn8Isv-3M

17. Februar 2014