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KULTUR/0971: Mindestlohn gefährdet Pressefreiheit? Über die Deutungsmacht der Verlagskonzerne (SB)




Man muß dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) dankbar sein für die Offenheit, mit der er den Zusammenhang zwischen Pressefreiheit und Mindestlohn in die öffentliche Debatte wirft: "Wer es mit der Rolle der Zeitung für die politische Meinungs- und Willensbildung ernst meint, der darf bei der Einführung des Mindestlohns nicht dogmatisch vorgehen", läßt der Interessenverband anläßlich der Diskussion um Ausnahmeregelungen vom gesetzlichen Mindestlohn verlauten. Indem das Grundrecht auf freie Presse und eine angemessene Vergütung für die Lohnarbeiterklasse in einen vermeintlich unauflöslichen Widerspruch zueinander gebracht werden, positionieren sich die Verlagskonzerne im Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit so eindeutig, wie es im Alltagsgeschäft ihrer Publikationen eigentlich nicht der Fall sein sollte.

Daß davon nicht auszugehen ist, sondern die Konzernpresse mehrheitlich dem neoliberalen Credo der Investitionsanreize durch Kostensenkung bei Arbeit und Sozialausgaben frönt, entspricht dem Interesse der Eigentümer. So unabhängig die Redaktionen formalrechtlich von ihnen sind, so virulent ist die berühmte "Schere im Kopf" unter den lohnabhängigen Journalistinnen und Journalisten. Es bedarf keiner expliziten "Unternehmensgrundsätze" [1], mit denen der Springer-Konzern sein Personal auf die transatlantischen und antikommunistischen Werte des Verlagsgründers einschwört, um ideologische Kohärenz zu gewährleisten. Wer sich um eine Festanstellung bewirbt oder als freie Autorin und Autor dauerhaft Aufträge erhalten will, tut gut daran, ein stromlinienförmiges Profil insbesondere im Bereich Politik und Gesellschaft vorzuhalten.

Lohnforderungen als Gefährdung der Pressefreiheit darzustellen, unterstreicht die Abhängigkeit der angeblich vierten Gewalt im Staate von den Renditezielen der Verlagskonzerne, so daß die Vermutung, mit publizistischer Macht werde auch in diesem Sinne Politik gemacht, zumindest naheliegt. Für Verdi-Vize Frank Werneke handelt es sich dabei jedenfalls um mehr als eine bloße Mutmaßung, wie er im Deutschlandfunk ausführte: "Wir erleben jetzt, dass die Zeitungsverlage ihre örtlichen Bundestagsabgeordneten natürlich massiv versuchen zu beeinflussen. Und natürlich hat ein Zeitungsverlag, der ein Stück weit, zumindest was das gedruckte Wort betrifft, ein Meinungsmonopol in einer Region hat, Einfluss. Und natürlich ist es so, dass, wenn dort ein Zeitungsverleger seinen Bundestagabgeordneten anspricht - um das mal freundlich zu formulieren -, das eine andere Wirkung hat, als wenn das ein anderer Wirtschaftszweig macht oder ein anderes Unternehmen" [2].

"Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein", schrieb Karl Marx den Verlegern seiner Epoche ins Stammbuch. Ein nicht von Kapital- und Herrschaftsinteressen kontaminierter Freiheitsbegriff setzt voraus, den liberalen, dem Bürgertum vorbehaltenen Freiheitsbegriff der Aufklärung auf die Füße der materiellen Grundlagen gesellschaftlicher Reproduktion zu stellen. Freiheit als soziales Verhältnis auf den Begriff nichtentfremdeter Arbeit zu bringen, bedeutete für Journalistinnen und Journalisten, die bestehenden Gewaltverhältnisse in Analyse und Kritik auf die Spitze nehmen zu können, ohne ihnen deswegen noch mehr ausgesetzt zu sein, als es jeder vergesellschaftete Mensch ohnehin ist.

Das angebliche Herdenverhalten der Presse ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis opportunistischer Erwägungen jeder daran beteiligten Person. Wenn ARD-Hauptstadtkorrespondent Michael Götschenberg im Deutschlandfunk anläßlich der Präsentation eines Buches des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff über die nach ihm benannte Affäre eine Art Automatismus unterstellt, der immer dann eintrete, wenn ein Skandalisierungsprozeß seine ganze Wucht entfaltet, dann bleiben vom Ethos journalistischer Unabhängigkeit nur mehr die Trümmer vom Druck gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse zerriebener berufständischer Ansprüche und Ideale: "Mit der Zeit rennen alle in eine Richtung, kaum einer mehr schwimmt gegen den Strom, das wird immer schwieriger, es bildet sich sozusagen eine einzelne Meinung heraus, die im Fall Wulff darin bestand, dass alle der Überzeugung waren, er muss gehen, und wenn er nicht gehen will, dann setzen wir ihn so lange unter Druck, bis er nicht mehr anders kann" [3].

Warum es schwierig sei, "sich dagegen zu stemmen", lautet die eigentlich interessante Frage an dieser Stelle. Ihr nicht nachzugehen, weil unumkehrbare Glaubwürdigkeitsverluste drohten, wenn deutlich würde, wie eng die Grenzen gezogen sind, in denen sich die journalistische Profession insbesondere in herrschafts- und kapitalismuskritischen Fragen aus verlags- wie gesellschaftspolitischen Gründen bewegt, verstärkt die Dynamik vorauseilender Unterwerfung. Wenn von einem Herdenverhalten zu sprechen wäre, dann betrifft es die Weigerung, die Zwänge und Nöte zur Sprache zu bringen, die die berufliche Existenz vieler Journalistinnen und Journalisten bestimmen. Die zuverlässige Beherrschbarkeit der Marktsubjekte, die Stimme nicht zu erheben, weil ein anderer die eigene Stelle einnehmen könnte, ist nicht zuletzt Ergebnis der Interessenkonvergenz von Kapital und Medien.

Dies betrifft auch den berufsständischen Schutzschirm, mit dem sich kommerzielle wie öffentlich-rechtliche "Qualitätsmedien" gegen die Kritik angeblich selbsternannter, weil nicht gewerblich agierender Autorinnen und Autoren verwahren. So wurde in der Ukraine-Krise vieles an berechtigter Kritik, die nicht aus dazu berufenem Munde stammte, mit herabwürdigenden Vokabeln wie "Putin-" oder "Rußlandversteher" auch in Kommentaren großer Zeitungen gebrandmarkt, als sei deren Verfasserinnen und Verfassern die Munition für eine sachgemäße Argumentation ausgegangen. Zur Verteidigung des deutschen Imperialismus, selbst wenn dieser im NATO- und EU-Verbund offene und expansive Interessenpolitik gegen Rußland betreibt, bedarf es offensichtlich "robuster" Mittel, wozu nicht zuletzt die auf bloßer Masse, sprich Auflagenzahlen und Einschaltquoten, basierende Deutungsmacht der Verlagskonzerne gehört.

Dabei haben zahlreiche nicht gewerblich tätige Autorinnen und Autoren in Blogs, Online-Zeitungen oder alternativen Medienprojekten in der aktuellen Diskussion um die Ukraine wie in der Wulff-Affäre die Aufgabe übernommen, gegen den Strom des hegemonialen Konsensmanagements zu schwimmen, ohne daran Schaden zu nehmen. Daß das Maß der Korrumpierbarkeit mit den Meriten professioneller Anerkennung und beruflicher Existenzsicherung zunimmt, trifft zweifellos auch auf den Bereich der sogenannten Gegenöffentlichkeit zu, wie die Karriere der einst als linkes Sprachrohr für unterdrückte Informationen angetretenen taz zum Verlautbarungsorgan grünkapitalistischer Bourgeoisie oder das berüchtigte Beispiel der US-amerikanischen Huffington Post, die vom Autorenblog zum kommerziellen Medium avancierte, belegen. Letzten Endes ist es eine Frage der eigenen Wertschätzung, die persönliche Autonomie über den beruflichen Erfolg zu stellen und an der Freiheit festzuhalten, Kritik auch dann zu üben, wenn dies einer möglichen Karriere im Wege steht.


Fußnoten:

[1] KULTUR/0841: Journalistische Unabhängigkeit ... eine Schimäre massenmedialer Indoktrination (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0841.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/mindestlohn-verleger-fordern-sonderregelung-fuer.761.de.html?dram:article_id=288592

[3] http://www.deutschlandfunk.de/der-fall-christian-wulff-machtkampf-zwischen.694.de.html?dram:article_id=288709


Schattenblick-Kommentare rund um die Wulff-Affäre in chronologischer Folge:

FRIEDEN/1104: Christliche Erwerbsmoral schützt Frieden der Paläste (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/frie1104.html

PROPAGANDA/1443: Wer dominiert wen? Springer-Konzern vs. Bundespräsident Wulff (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1639.html

HERRSCHAFT/1639: Revanche für 2010 ... die Stunde der Gauckisten (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1639.html

KULTUR/0917: Wulff muß fallen, um die Ambivalenz bürgerlicher Moral zu retten (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0917.html

KULTUR/0919: Eigenlob tut not - Qualitätsjournalismus fürchtet Bedeutungsverlust (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0919.html

HERRSCHAFT/1647: Zweckdienliche Empörung über Wulffs Ehrensold (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1647.html

KULTUR/0922: Zappenduster beim Zapfenstreich - Resterampe Verfassungsstaat (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0922.html

KULTUR/0930: Das Geschäft des Boulevards betreiben, indem man es leugnet ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0930.html

10. Juni 2014