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KULTUR/0990: Im Gleichschritt gesund! - Auf der Strecke des Optimierungswettlaufs geblieben ... (SB)



Wer will schon "umsonst" gelebt oder seine Lebenszeit "sinnlos" verschwendet haben? Die Frage nach dem Sinn beschäftigt die Menschen ebensosehr wie die Vergeblichkeit des Unterfangens, welcher darauf gegebenen Antwort auch immer eine Dauer zu verleihen, die nicht an der Finalität der leiblichen Substanz bricht. Während von Glauben und Religion geprägte Antworten auf ein numinoses Jenseits verweisen, in dem womöglich reicher Lohn für erlittene Entbehrungen wartet, ist der gesellschaftliche Zweck des Daseins ganz prosaischer Natur. Die soziale Reproduktion auf möglichst hohem, Gesundheit und ein langes Leben garantierendem Produktivitätsniveau unter freien, gerechten und demokratischen Bedingungen zu gewährleisten, könnte als das allgemeine Ziel individueller Vergesellschaftung seit der bürgerlichen Aufklärung umschrieben werden.

Die soziale Realität kapitalistischer Klassengesellschaften ist nach wie vor weit entfernt davon, die zum Erreichen dieser Ziele notwendigen egalitären Bedingungen zu schaffen. Selbst das einmal erreichte Niveau eines sozialen Ausgleichs, der die gröbsten Defizite der herrschenden Eigentumsverhältnisse durch Systeme der sozialen Sicherung und Zugeständnisse an die Lohnabhängigen beseitigen sollte, wird nicht mehr gehalten. Statt dessen ist ein sozialdarwinistisches Hauen und Stechen entbrannt, in dem der Schaden des einen dem anderen zum Vorteil gereicht. Analog zu der Forderung, die Ware Arbeit durch in eigener Regie erworbene Leistungs- und Effizienzmerkmale aufzuwerten, sollen alle Lebensrisiken "eigenverantwortlich" verwaltet, das heißt auf eigene Rechnung abgegolten werden. Wurde mit der Errungenschaft der sozialstaatlichen Solidargemeinschaft, Wohlfahrtsleistungen zumindest den Inhabern der jeweiligen Staatsbürgerschaft diskriminierungsfrei zu gewähren, eine Art Klassenkompromiß gestiftet, so hat die Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus das Prinzip marktwirtschaftlicher Konkurrenz auch in die kleinsten Einheiten des sozialen Gefüges getrieben. Staat und Kapital müssen existentielle Bedrohungen durch Krankheit und Invalidität nicht mehr in gleichem Ausmaße wie früher sozialversicherungstechnisch abfedern, um sozialen Aufständen vorzubeugen, weil man es verstanden hat, die marktförmige Logik geldwerten Tausches weit über die Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen hinaus auf die Beziehungen zwischen Menschen anzuwenden. Unter Verdacht gegenseitiger Übervorteilung gestellt wird der Boden fruchtbar gemacht für Rassismus, Sozial- und Nationalchauvinismus, so daß diejenigen, bei denen diese Mutmaßung tatsächlich ins Schwarze trifft, den Ertrag des Teilens und Herrschens in aller Ruhe einstreichen können.

Was einst als Rechtsanspruch auf ein Leben ohne Not und Zwang galt, wurde durch das Prinzip des "Förderns und Forderns" unter den Primat eines paternalistischen Staates gestellt, gegenüber dem der Mensch schon qua Geburt ins Nationalkollektiv der Steuerpflichtigen verschuldet ist. Er hat nicht nur Lohnempfänger zu sein, er soll auch Bittsteller werden, wenn er aus physischen oder psychischen Gründen nicht mehr in der Lage ist, sein Leben durch den Verkauf seiner Arbeitskraft zu fristen. So könnte der Primat der "Eigenverantwortung" auch als Surrogat jenen Eigentums bezeichnet werden, über das der Mensch nicht verfügt außer in Form nämlicher Bringschuld. Er ganz allein hat sich "eigenverantwortlich", sprich schuldhafterweise in die Lage manövriert, sein Leben nicht mehr am Arbeitsmarkt finanzieren zu können.

Das ist zumindest der Fluchtpunkt neoliberaler Bezichtigungslogik. Sie hebt vom fundamentalen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, zwischen den Menschen, die ihre Leistungsfähigkeit und Lebenszeit am Markt feilbieten müssen, und den Eigentümern der Produktionsmittel, die sie dort kaufen, auf die Ebene einer abstrakten Verfügbarkeit ab, die scheinbar nichts mit den materiellen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zu tun hat. Werden schon die Gewinne, die aus der Aneignung unbezahlter Arbeitskraft durch den Unternehmer hervorgehen, privatisiert, so sollen auch die Kosten, die den Verkäufern der Arbeitskraft durch körperlichen und seelischen Verschleiß entstehen, einer scharfen Rationalisierungslogik unterworfen werden, anstatt sie nach dem Solidarprinzip auf die Allgemeinheit der Sozialversicherten umzuschlagen.

Angesichts einer Krisenkonkurrenz, in der versucht wird, den Mangel an zahlungsfähiger Nachfrage und die daraus entstehende Überproduktion durch immer rigidere Kostenkontrolle zu kompensieren, stellt die Kommodifizierung der Gesundheit zu einem Guthaben, das nicht leichtfertig verschwendet werden darf, die konsequente Anwendung der Geldlogik auf Qualitäten dar, die bislang noch der Bemeßbarkeit und Verwertbarkeit entzogen waren. Dies zeigt sich etwa anhand der Ankündigung des Versicherungsunternehmens Generali, Berufsunfähigkeits- und Risikolebensversicherungen mit seinem Angebot "Vitality" an die jeweilige Bereitschaft der Versicherten zu koppeln, ihre Bemühungen um eine gesündere Lebensführung mit informationstechnischen Mitteln überprüfbar und kommunizierbar zu machen.

Belohnt wird die Bemühung um ein gesundheitsbewußteres Leben mit niedrigeren Versicherungsbeiträgen und Rabatten anderer Unternehmen, die sich als Kooperationspartner an "Vitality" beteiligen. Sich Vorsorgeuntersuchungen zu unterziehen, als gesund geltende Lebensmittel zu konsumieren, aufs Rauchen zu verzichten und sportliche Aktivitäten zu betreiben reicht allein jedoch nicht aus. All dies wird dokumentiert und an den Versicherer wie andere Unternehmen weitergegeben, was bereits zu heftiger Kritik von Datenschützern geführt hat.

Weniger bedeutsam in der öffentlichen Debatte, aber nicht weniger relevant für die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, denen die Marktsubjekte unterworfen werden, ist der damit einhergehende Normierungs- und Anpassungsdruck. Der von Generali als ausschließlich vorteilhaft beworbene Zweiklang aus Verhaltensoptimierung und Kosteneinsparung spannt den Menschen in ein Koordinatensystem ein, in dem die Resultante aus Disziplinierung und Sparsamkeit einen Lebenssinn produziert, der in seiner Bereitschaft, alles für die eigene Einspeisung in die große Maschine zu tun, nicht genügsamer sein könnte. Die vom individuell Besonderen bis zum gesellschaftlich Allgemeinen flexibel skalierbare Evaluation physiologischer und psychophysischer Daten schafft beste Voraussetzungen dafür, den optimalen Durchschnitt einer Leistungsfähigkeit zu bestimmen, der zur Richtschnur verlangten Wohlverhaltens in allen Lebenslagen taugt.

Hätte sich eine solche Norm einmal mit Hilfe medizinsoziologischer und gesundheitspolitischer Maßgaben etabliert, dann verwandelten sich die als Anreiz für Prävention und Gesundheitsvorsorge in Aussicht gestellten Gratifikationen ganz im Sinne der Bringschuld, die die Gesellschaft dem einzelnen abverlangt, in Mehrkosten oder andere disziplinatorische Maßnahmen zur Sanktionierung jeder Abweichung von der verlangten Norm. Unter dem Primat gesamtgesellschaftlicher Rationalisierung, die in der austeritätspolitischen Wachstumsdoktrin der Bundesregierung exemplarisch Gestalt annimmt, wird die schleichende Verrechtlichung der Ergebnisse verhaltensökonomischer Vermessung kaum ausbleiben.

Der Verlust an Freiheit, seinen ganz persönlichen Lebenssinn womöglich auch in selbstzerstörerischen Praktiken zu erschließen, läßt sich ohne weiteres als gesellschaftlicher Fortschritt zu mehr Lebensqualität ausweisen. Im landläufigen Sinn Fehler zu begehen oder sich herrschenden Verhältnissen entgegenzustellen wäre dann kein Akt individueller Freiheit oder persönlicher Autonomie mehr, sondern ein strafwürdiges Vergehen an der Allgemeinheit.

Sind Lebensrisiken nicht mehr nur Gegenstand einer Wette, wie bei der Ansparung eines Guthabens, das nur im Schadensfall ausgezahlt wird, üblich, und schwingt sich die Assekuranz zum Zuchtmeister über das alltägliche Leben auf, dann wird individuelles Verhalten auf Schritt und Tritt [1] in Wert gesetzt. Mit der Mathematisierung an und für sich nicht bemeßbarer Lebensmanifestationen erlangt der einzelne Mensch nurmehr Bedeutung als ein Ensemble aus Daten [2], das weit mehr Gültigkeit für das Funktionieren einer Gesellschaft hat als die Träume, Wünsche und Hoffnungen ihrer Mitglieder.

Schließlich verkommt die als Homo oeconomicus getaufte Charaktermaske, die ihre geschäftlichen Vor- und Nachteile sorgsam abwägt, um die bestmögliche Entscheidung am Markt zu treffen, vollends zu einem von Anpassungszwängen getriebenen und in seiner Isolation atomisierten Herrschaftssubjekt. Wo die Definitionsmacht über das Leben vollständig in den Händen derer liegt, die es zwecks weiterer Nutzbarkeit teilbar und verfügbar machen, ist auch die Frage nach dem Sinn dieser Verhältnisse letztgültig beantwortet. Dies nicht zu akzeptieren und das medizinaladministrative Diktat einer Arbeitsgesellschaft, das den Menschen auf optimale Ausbeutbarkeit und genügsames Funktionieren trimmen will, subversiv zu unterminieren beginnt damit, den Nimbus der Gesundheit mit der Unauslotbarkeit einer Freiheit zu konfrontieren, die das größte Gut jedes Menschen ist, der über nichts verfügt als die Möglichkeit, sie in Anspruch zu nehmen.


Fußnoten:

[1] KULTUR/0983: Fitneß-App - Sozialkontrolle selbstgemacht ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0983.html

[2] BERICHT/027: Der gläserne Patient - steter Tropfen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0027.html

27. Juni 2016


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