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KULTUR/0996: Hinter der Burka die Augen des panoptischen Staates (SB)



Das Mißverhältnis zwischen dem realen Aufkommen an Burkaträgerinnen in der Bundesrepublik und der hochgradigen Erregung, mit der um ein mögliches Verbot dieser Bekleidungsform gestritten wird, verrät vor allem eins: Es geht nicht um diese spezifische Form, im öffentlichen Raum zwar hochgradig sichtbar zu sein, aber zugleich anonym zu bleiben. Es geht um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Staat und Mensch, um die Frage, inwiefern der einzelne sich rechenschaftspflichtig für seine Existenz zu machen, also Gesicht zu zeigen hat.

Die Pflicht zur individuellen Kenntlichkeit läßt sich bei einem Thema, bei dem mit leichter Hand ein Bedrohungspotential zu entfachen ist, gut einfordern. Schließlich leuchtet es vielen Bürgerinnen und Bürgern ein, daß sich unter dem weiten Gewand ja auch Attentäter und Bombenleger verbergen könnten. Doch das gilt auch für Fahrzeuge aller Art, deren Kofferräume nicht einsehbar sind und die eine dementsprechend hochgradige Gefahr darstellen müßten. Dabei wird die Privatisierung des öffentlichen Raumes durch den motorisierten Individualverkehr wie selbstverständlich akzeptiert, obschon es keineswegs so sein müßte, daß die Straßen von rollenden Lebensräumen privater Natur besetzt sind, die, mit massiver kinetischer Energie eine Gefahr eigener Art darstellend, die Bewegungs- und Lebensmöglichkeiten von Menschen einschränken, die sich nicht hinter schützenden Blechwänden verschanzen wollen oder können.

Exponiert für voyeuristische bis physische Attacken sind nicht Autofahrer, die sich im Zweifelsfall hinter getönten Scheiben oder anderen Sichtblenden verbergen respektive aufs Gaspedal treten können, sondern vor allem Fußgänger, die stets auf dem Präsentierteller sind. Über das dem motorisierten Individualverkehr zugrundeliegende Gewaltverhältnis einmal nachzudenken könnte eine Debatte auslösen, die weit mehr gesellschaftliches und sozialökologisches Entwicklungspotential freisetzte als ein Migration und Terrorismus verknüpfender Diskurs von eher perfider politischer Motivlage.

Wird also im speziellen Fall der Burkaträgerin die Anonymität ihrer Erscheinungsform als Gefahrenherd ausgemacht, dann lassen sich mit dieser Logik zahlreiche Formen individueller Verkleidung unter Verdacht sinistrer Motive stellen. Das Vermummungsverbot läßt grüßen, ist es doch ein explizites Beispiel für die herrschaftliche Nötigung des Menschen, Farbe gegenüber einem Sicherheitsapparat zu bekennen, der sich seinerseits in panoptische Unsichtbarkeit hüllt [1]. Da kann es nicht erstaunen, daß die Forderung nach einer Aufhebung der Anonymität im elektronischen Datenverkehr zur permanenten Begleitmusik sicherheitsstaatlicher Debatten gehört, was den Schluß nahelegt, daß sie etwa nach einem größeren terroristischen Anschlag durchgesetzt werden könnte.

Was immer sich hinter einer Burka verbergen mag, hat mit den Befürchtungen argwöhnischer Menschen wenig zu tun. Die Mutmaßungen, zu denen die exotische Erscheinung einlädt, entspringen vielmehr der eigenen Zurichtung auf die Paßform eines Sicherheitsstaates, dem alles verdächtig erscheint, was nicht in hoher Auflösung kalkulier- und berechenbar ist. Daß völlige Transparenz zur Regel wird, daran wird mit Kräften gearbeitet, wie die Aufrüstung der informationstechnischen Kontrollsphäre zur zweiten Natur des vergesellschafteten Menschen zeigt. Sich über die Unterdrückung muslimischer Frauen zu ereifern wirkt demgegenüber wie ein Ablenkungsmanöver, wäre doch die streitbare Auseinandersetzung mit der eigenen Bereitschaft, sich der staatlichen Forderung nach mehr Entblößung und umfassender Identifizierbarkeit zu unterwerfen, ein realer Schritt in Richtung Emanzipation von Zwang und Gewalt.


Fußnote:

[1] KULTUR/0994: Anonymität und Entblößung im staatlichen Vollzug (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0994.html

14. September 2016


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